Wirtschaft ohne Markt und Plan
Ideen des Wirtschaftswissenschaftlers Victor Agartz teils heute noch relevant
Der Ökonom Victor Agartz konzipierte eine sozialistische Wirtschaftsordnung für die BRD. Eine Konferenz gedachte des in den Nachkriegsjahren einflussreichen Theoretikers von SPD und DGB.
Victor Agartz, ein »sehr kritischer Gewerkschafter und Sozialdemokrat«, sei auch 50 Jahre nach seinem Tod noch interessant, sagt Guntram Schneider, Ex-Vorsitzender des DGB in Nordrhein-Westfalen. Schneider fordert eine Diskussion über »mehr Plan in unserer Wirtschaft«. Es brauche »sehr viel Planung«, um unseren Sozialstaat zu gewährleisten. Auch die Mitbestimmung müsse im Agartzschen Sinne erweitert werden: auf die Gesamtwirtschaft und den Arbeitsplatz. Linkssozialist Agartz, betont Schneider, sei »ein Vorbild für viele, die heute in Verantwortung stehen« innerhalb der Arbeiterbewegung.
Und offenbar auch für ihn, seines Zeichens Minister für Arbeit, Integration und Soziales in NordrheinWestfalen und damit prominentester der rund 80 Gäste im Bochumer Haus der Geschichte des Ruhrgebiets. Dort trafen sich am Samstag Gewerkschafter, Historiker, Sozialwissenschaftler, linke Sozialdemokraten, LINKE und ein paar Libertäre, um beinahe pünktlich zu Agartz 50. Todestag des wichtigsten Theoretikers der nicht-kommunistischen Teile der Arbeiterbewegung in der jungen Bundesrepublik zu gedenken. »Von der Mitbestimmung zur Wirtschaftsdemokratie« war die Konferenz überschrieben, eingeladen hatten die linksparteinahe Rosa-LuxemburgStiftung und der DGB in NRW.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzipierte Agartz eine Wirtschaftsdemokratie als Dritten Weg jenseits von »sozialer Marktwirtschaft« (vulgo: Kapitalismus) und Sozialismus nach sowjetischer Prägung. Nicht Markt und nicht Plan, sondern die Men- schen sollten entscheiden, was produziert wird. Das wollte Agartz durch Wirtschaftsräte auf allen Ebenen, über Aufsichtsräte und betriebliche Wirtschaftsausschüsse sichergestellt sehen. Darüber hinaus forderte Agartz einen starken öffentlichen Sektor und setzte auf Genossenschaften. Insbesondere Banken, Montan- und Chemie-Industrie wollte er in Gemeineigentum überführen.
Agartz war bis in die Mitte der 1950er hinein enorm einflussreich: Der von Faschismusvorwürfen unbelastete Ökonom leitete in den Nachkriegsjahren die Vorläufer des Wirtschaftsministeriums erst in der britisch besetzten, dann in der amerikanisch-britischen Bizone bis 1947. Auf Kongressen von SPD, DGB und Genossenschaftsbewegung hielt er Grundsatzreden, galt als Cheftheoretiker. »Der Lord von Köln«, der das Amt des Oberbürgermeisters der Domstadt ausschlug, saß zudem in vielen Aufsichtsräten. Doch die Widerstände wuchsen. Wirtschaftswunder und Antikommunismus überrollten schließlich Agartz’ Konzepte.
Vieles sei veraltet, doch könne eine Auseinandersetzung mit den Theorien zu Kapitalismus, Krise und Sozialstaat gewinnbringend sein, resümierte auf der Bochumer Konferenz der Historiker und Agartz-Biograf Christoph Jünke (Fern-Uni Hagen).
Eine kleine Wiedergeburt Agartzscher Ideen in DGB, ver.di und IG Metall machte zudem der Politologe Dr. Thorsten Schulten aus. So wolle ver.di in diesem Jahr ein Papier vorstellen, dass von Agartz beeinflusst sei, so der Mitarbeiter des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (Gründungsdirektor: Victor Agartz). Die Debatte franste allerdings mitunter etwas aus. Offenbar hat jeder seinen eigenen Agartz, den er in seinem Sinne historisiert und aktualisiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzipierte Agartz eine Wirtschaftsdemokratie als Dritten Weg jenseits von sozialer Marktwirtschaft und Sozialismus.