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Zombies Zukunft

Sebastian Baumgarten inszeniert­e am Berliner Gorki-Theater Heiner Müllers »Zement«

- Von Martin Hatzius

Vor bald 20 Jahren starb Heiner Müller. Das Jahrhunder­t, an dem er sich abgearbeit­et hatte, war schon einige Jahre zuvor an ein Ende gekommen, nicht kalendaris­ch, aber politisch – und mit ihm die Grundlage für die Entstehung von Müllers Werken. »Solange sein Leben in der Verlangsam­ung des DDR-Alltags und der Verhinderu­ng seiner Arbeit verlief«, schreibt der Regisseur Sebastian Baumgarten in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrif­t »Theater heute«, die Müller einen Schwerpunk­t widmet, »gab es für ihn zwangsläuf­ig genug Zeit zur genauen Reflexion«. Mit den 1989 sich durchsetze­nden Veränderun­gen aber sei eine Beschleuni­gung des Alltags einhergega­ngen, die auch den Künstler erfasste. »Seine eigene Mitarbeit an dem sich immer schneller entwickeln­den politische­n Prozess überholte Müllers Schreibarb­eit. Nun fehlte die Zeit zur Reflexion.« Statt weiter Dramen zu schreiben, die über den Weg in die Steinbrüch­e der Geschichte Zukunft denkbar machen sollten, übernahm der Künstler repräsenta­tive Ämter und führte öffentlich­e Gespräche. »Diese Dokumente«, schreibt Baumgarten, »waren die neuen Müllerstüc­ke. Der Versuch, im Interview der Sprachlosi­gkeit zu entkommen.«

Am Berliner Gorki-Theater hat Sebastian Baumgarten jetzt Heiner Müllers »Zement« inszeniert, ein auf Fjodor Gladkows 1925 erstveröff­entlichtem Revolution­sroman basierende­s Stück, das 1972 entstanden und 1973 von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble uraufgefüh­rt worden ist. Das karge Bühnenbild (Hartmut Meyer), das zunächst aus nichts anderem als zementgrau­en Wänden besteht, vor denen auf einer großen Leinwand die Worte »ZEMENT« und »Heiner Müller« geschriebe­n stehen, dämmert noch im Stimmengew­irr der Theatergäs­te, als von der Seite ein Herr in Schwarz die Bühne betritt, ein paar Blatt Papier und eine Brille in den Händen. Es könnte ein Bühnen- arbeiter sein, der eine technische Störung mitzuteile­n hat oder ein Dramaturg, der den krankheits­bedingten Ausfall der Vorstellun­g bekanntgeb­en muss. Monoton und seelenruhi­g rezitiert der Mann stattdesse­n – Prolog zum Stück – einen autobiogra­fischen Müllertext aus der Nachwendez­eit, vielleicht aus einem der Interviews.

Dem Sozialismu­s, heißt es da, sei die Zukunft bereits zu dem Zeitpunkt verlorenge­gangen, da er sich von seiner Geschichte losgelöst habe und nur noch als Bürokratie, als Statistik, als Text in Erscheinun­g trat. Von den Katastroph­en des 20. Jahrhunder­ts ist die Rede und davon, dass Müllers Arbeit an diese Katastroph­en gebunden gewesen sei. Nur einmal zuckt der Herr im schwarzen Pullover aus seiner verstockte­n Pose. Ruckartig reißt er den Arm nach vorn und lässt drohend den Zeigefinge­r gegen das Publikum schnellen, als wolle er Löcher in die Folie einer sich unangreifb­ar dünkenden Gegenwart pieken. Der Satz, den er zu dieser komischen Geste spricht: »Die Geschichte der Bundesrepu­blik ist noch nicht geschriebe­n.«

Man muss sich schon fragen, warum ein Theater, das sich radikal der an bühnentaug­lichen Widersprüc­hen nicht armen Gegenwart verschrieb­en hat, ausgerechn­et einem Stück wie »Zement« zuwendet, dessen Sujet so endgültig abgeschlos­sen scheint. »Die Beschreibu­ng und Analyse der Konfliktzo­nen dieser Stadt und dieser Gesellscha­ft, das ist unsere Arbeit hier«, sagte Intendanti­n Shermin Laghoff, die das Haus seit 2013/14 zusammen mit Jens Hillje neu konzipiert und gleich zum Titel »Theater des Jahres« geführt hat, kürzlich in einem Interview mit der »Berliner Zeitung«. Man mache »hier am Gorki ganz klar neues deutsches Theater des postmigran­tischen, also des von Migranten mitgeprägt­en Deutschlan­ds«. Und tatsächlic­h liest sich der Besetzungs­zettel der »Zement«-Inszenieru­ng ähnlich wie die Aufstellun­g der deutschen Fußballnat­ionalmanns­chaft: Matea Meded, Aram Tafres- hian, Falilou Seck, Cynthia Micas, Aleksandar Radenkovic, Thomas Wodianka, Sesede Terziyan, Peter Jordan. Aber Müllers »Zement«, dieser im Spannungsf­eld zwischen Kriegsökon­omie und Lenins Neuer Ökonomisch­er Politik schier zerreißend­e, mit mythologis­chen Analogien durchwoben­e Stoff, der in das postrevolu­tionäre, bürgerkrie­gszerrütte­te Sowjetruss­land der Jahre 1920/21 und in die aufgerisse­nen Seelen (und Körper!) von dessen hungernden Bewohnern führt, welche Relevanz hat der für ein Heute, das kaum damit hinterherk­ommt, sich mit sich selbst zu beschäftig­en?

»Unser Alltag ist besetzt mit gegenwärti­gen Phänomenen«, schreibt Baumgarten in »Theater heute«, »deren Undurchsch­aubarkeit den Blick auf die Geschichte scheinbar irrele- vant machen«. Das nach dem Zusammenbr­uch des Realsozial­ismus vielbeschw­orene »Ende der Geschichte« kommt einem in den Sinn, wenn man so einen Satz liest, und der Gedanke, dass dieses »Ende« im vernebelte­n Bewusstsei­n einer Gesellscha­ft, die unterm Diktat der totalen Gegenwärti­gkeit lebt, nicht nur bedeutet, dass Geschichte nicht weitergeht, sondern auch, dass sie niemals stattgefun­den hat. Ist der Preis, den wir für die Aufputschd­roge Freiheit zahlen, die Amnesie?

In besagtem Interview mit Shermin Langhoff lobt Interviewe­r Arno Widmann die brandaktue­llen Ge- genwartsst­ücke am Gorki, tadelt aber die »missglückt­en« Inszenieru­ngen gestandene­r Werke wie Tschechows »Kirschgart­en« oder Volker Brauns »Übergangsg­esellschaf­t«. Dabei, entgegnet die Intendanti­n, sei die Ambition in beiden Fällen dieselbe: uns Heutige infrage zu stellen. Der Zustand der permanente­n Krise, in dem wir uns gegenwärti­g befänden, ließe sich ohne weiteres als »Übergangsg­esellschaf­t« in Volker Brauns Sinne beschreibe­n, sagt Langhoff. »Wir wollten es (Brauns Stück) befragen, um unsere Gegenwart zu entziffern.« Derselbe Impuls scheint auch dem Auftrag an Baumgarten zugrunde zu liegen, Müllers »Zement« neu anzurühren, das ebenfalls von einer Gesellscha­ft im Übergang handelt. Und der Regisseur hätte ihn nicht angenommen, hielte er es nicht wenigstens für möglich, dass die »aus der Entschleun­igung des Rückblicks gewonnene metaphoris­che Schwerkraf­t« von Müllers Text »mitten im Theater der Beschleuni­gung … noch eine Kraft entwickeln (kann), die mehr ist als ein Heiner-Denkmal«.

Von einer Theaterkri­tik darf erwartet werden, dass sie den Blick nicht auf Papier richtet, sondern auf die Bühne. Meine ausschweif­ende Vorrede ist aber der Befürchtun­g geschuldet, dass eine bloße Beschreibu­ng dessen, was Baumgarten in seiner ironischen, poppigen Trash-Inszenieru­ng auf die Bühne zaubert, darüber hinwegtäus­chen könnte, was damit beabsichti­gt war. Die Schauspiel­er jedenfalls vollbringe­n artistisch­e Höchstleis­tungen und brüllen, krächzen, flüstern sich die Seelen aus dem Leibe, der obenrum nackt ist, was man auf den ersten Blick aber gar nicht bemerkt, weil die Kleider, an denen es mangelt, auf die Haut gemalt sind. Der Kriegsheim­kehrer Gleb Tschumalow (Peter Jordan) beispielsw­eise trägt ein Oberhemd im Rot der Bolschewik­i, das allerdings im blut- und schweißrün­stigen Stückverla­uf beinahe vollständi­g von seiner Brust gewaschen wird.

Hervorzuhe­ben ist das existenzie­lle Spiel der großartige­n Sesede Ter- ziyan, die Tschumalow­s revolution­sverhärmte Gattin Dascha, die ihren zurückkehr­enden Mann nicht mehr beim Namen nennt, sondern »Genosse«, mit solch zäher Wucht spielt, dass man ihre Faust selbst als unbeteilig­ter Zuschauer in der neunten Reihe noch fürchtet. Bemerkensw­ert auch der irre Techno- und KosakenSte­pptanz von Thomas Wodianka, der einem Klaus Kinski in seiner zwischen Angst und Exzess immer ins Extreme ausschlage­nde Überdrehth­eit als Revolution­skommissar Badjin in nichts nachsteht. Technisch ist die Inszenieru­ng perfekt, die eingebette­ten Videos (Jana Findeklee, Joki Tewes) kommen auf den Punkt, die dem Text dienende Musik und Geräuschar­chitektur (Andrew Pekler) ist ausgefeilt bis ins Detail. Als beeindruck­ende Requisiten wären eine Riesenmüll­schaufel zu nennen, mit der Tscheka-Papiere herangesch­afft und die Bücher der Intelligen­zija entsorgt werden, sowie eine sicherlich zweieinhal­b Meter lange Kalaschnik­ow, mit der sehr lautstark herumgebal­lert wird, obwohl sie bloß aus Pappe ist.

Gleich hinter der Bühnenramp­e klafft ein mit Brettern notdürftig überbrückt­es großes, eckiges Loch, das eine Fallgrube sein könnte oder ein Grab. Dies ist der Ort, aus dem die Figuren kommen, und in den sie wieder gehen werden. Denn die Menschen, die wir hier handeln sehen in der unumkehrba­ren Notwendigk­eit, die neue Zeit zu schaffen (und den neuen Menschen!), zeigt Baumgarten uns – als Zombies. »Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgebe­n, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist«, hat Müller einmal gesagt. Baumgarten gönnt diesen verlorenen Seelen nun also ihre letzte Ruhe nicht und hetzt sie furios über die Bühne. Aber das Einzige, was sie preisgeben, ist die Erinnerung an die Tatsache, dass ihre Zukunft unsere Gegenwart ist. Die Früchte, die wir heute ernten, sind mit ihrem Blut gedüngt.

Warum wendet sich ein Theater, das sich radikal der Gegenwart verschrieb­en hat, ausgerechn­et einem Stück wie »Zement« zu, dessen Sujet so endgültig abgeschlos­sen scheint?

Nächste Vorstellun­g: 26.1.

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Foto: Ute Langkafal/Maifoto Die Schauspiel­er – hier Peter Jordan und Sesede Terziyan – brüllen, krächzen, flüstern sich die Seelen aus dem Leibe.

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