Heino wird Heine singen
Volker Lösch inszenierte Hauptmanns »Die Ratten« am Düsseldorfer Schauspielhaus
Einst schufen Theaterdichter feurige Charaktere, die mit Dolch in der Magengrube und Limonade im Bauch unsterbliches Leben anmeldeten. Über Ibsen und Strindberg und Tschechow aber zerrieb, erschöpfte sich das Bürgertum am flammend unverwechselbaren Helden. Längst schlingern nur noch Sprachröhren über die Bühnen, so, wie gesichtsscheue Kapuzentypen durch die Realität huschen. Unsterblich einprägsam waren Ferdinand, Luise, Karl, Franz, Emilia, Fiesco. Protagonisten heutiger Stücke heißen anders, sind ganz Flüchtigkeit: der Mann, die Frau, Er und Sie, der Fremde, die Alte. Dass die Moderne nahezu frenetisch Individualität und Selbst-Besinnung beschwört – es bildet einen seltsamen Gegensatz zum Persönlichkeitsverlust des theatralischen Personals: Jenes Ich, das dunnemals so wild und wehe in Aktion verglühte – es wurde ersetzt durch den Typus, der müde, hilflos, nervös reflektiert, weil er im Grunde nichts mehr lebt; jede Existenz kommentiert sich, ehe sie sich überhaupt erfahren könnte.
Freilich: Ans Schlepptau jeder Verkümmerung krallt sich ein aufhelfender Vorschlag. Den nennt man behelfsmäßig dokumentarisches Theater. Also: bewusst Wirklichkeit präsentieren statt Fiktion; nicht den Schein wahren, sondern das Sein behaupten. Bis hin zum Exzess: Das Theater gibt seine vererbte Immunität im reinen Kunstraum auf und lässt sich von Reportage, Recherche, Protokoll und purer Sozialfall-Publizistik zerfransen. Oder findet es so vielleicht zu neuer, zeitgemäßer Bedeutung? Durch Selbstaufgabe zu neuem Selbstbewusstsein – das zu gesteigertem Bewusstsein für soziale, politische Konfliktlagen führt?
Genau hier setzt der Regisseur Volker Lösch an, er inszeniert seit jeher das Fragezeichen. Er ist der Chorführer von Zorn und Ohmacht, die aus dem realen Leben ins Kunstlicht drängen. Er kann nicht Theater machen, ohne an Gegenwart zu verzweifeln. Er dreht die Spirale seines aufreizend deutlichen Zeigetheaters immer weiter. Plakat und Position. Drastischer Witz schlägt Schneisen durchs spätbourgeoise Kulturgelände von Konformismus und Konsens. Theater, solidarisch mit Gassen und Gossen. Gab er bereits Obdachlosen, Prostituierten, Ausländern, Flüchtlingen, türkischen Frauen, Ex-Häftlingen, Arbeitslosen, traumatisierten Soldaten eine Stimme, so sind es nun alleinerziehende Mütter. Lösch inszenierte am Düsseldorfer Schauspielhaus »Die Ratten« von Gerhart Hauptmann (Bühne und Kostüme: Cary Gayler, Jan Müller).
Zunächst ist das Ganze eine aufgedrehte, hemmungslos schwanksatte und furios auf die Bretter knal- lende Spaßiade gegen das hohle Pathos von Texttreue und Tempelweihe. Theaterdirektor Hassenreuter probiert Schillers »Braut von Messina«, brüllt seine Unzufriedenheit aus dem Publikum auf die Bühne, zerstaucht die zu brav tönende Schauspielerschar, forciert stimmdonnernd den gesteigerten pompösen Hohlklang. Hassenreuters Gegenspieler ist bei Hauptmann der junge Schauspieler Spitta – der hier mit der Lederbundjacke und dem Kopfwuschel eines Christoph Schlingensief (Urs Peter Halter) die Probe sprengt, das eingreifende Sozialtheater fordert und seinen Protest ins Fernsehen tragen wird: Aus Hauptmanns Geschichte bastelt er eine Reality-Soap bieder-bunten, ungelenken Zuschnitts – auf Großleinwand schlägt das Tiefniveau der täglichen Nachmittagsserien zu.
Hauptmanns Geschichte: Eine junge Polin, unglücklich schwanger, verkauft ihr Kind an die Putzfrau Jet- te John, deren eigener Säugling starb; das fremde Kleine als Aufhilfe für eine längst leidvolle Ehe, in welcher der Mann, auf Montage, auf ständigem Sprung zur Flucht steht. Als er die Kinds-Lüge erfährt, die aus ihm überraschend einen Vater machte, treibt die Tragödie auf ihre bitterstmögliche Vollendung zu ... Die Sozialtragik der Johns; Spittas Drang zur alarmierend lebensnahen Kunst; Hassenreuter, der die Fülle des schönen Wohllauts vor der kruden Welt zu retten sucht – das Bürgerliche verhakt sich verhängnisvoll mit der Verelendung. Jene Komödie um die Lüge, die Theater heißt, wird immer stärker verwickelt in jene Tragödie, die Dasein heißt. »Mutter« Johns Fiktion vom eigenen Kind, das ein gestohlenes ist: ein zerstörerischer Extremismus. Der Mensch muss einen Anschein erwecken, um ein bisschen Glück zu versuchen; die Scheinexistenz als letzter Ausweg, um ganz bei sich zu sein.
Claudia Hübbecker als Jette John und zugleich als Hassenreuters Gattin – sie brilliert. Sie ist federnd ausgefüllt mit Spähtrupparbeit in fortdauernden Kampfzonen. Ihre Frau John bleibt verhärmte, ganzkörperliche Verhärtung, hinter der jedoch eine Seele erbarmenswürdig um Liebe bettelt, und als Frau Hassenreuter schwankt und schleicht sie zwischen gedemütigter Haushüterin und beflissenem Eheweibchen. Anna Kubin als Polin Piperkarcka stolpert berührend tierfurchtsam durch ihre Aussichtslosigkeit – um im nächsten Moment als Hassenreuters Diva zur perfekten Tigerin des karrieregeilen Beinschwungs zu werden.
Mit rasantem Tempo fährt Lösch Slalom zwischen Hauptmann und Soap-Szenerie, steuert rhtyhmussicher auf die dritte Ebene seiner Inszenierung zu. Jener Chor alleinerziehender Düsseldorfer Mütter spiegelt gleichsam die Schlussfolgerung Spittas aus seinem TV-Ausflug: Zu- rück ans Theater! Dort aber: aufschreiende, aufrüttelnde Berichte aus einem bitteren weiblichen Alltag: »Ich bin ausgewechselt worden wie eine Glühbirne ... Die Frau eines Chirurgen ist wie eine Witwe, nur dass der Mann noch lebt ... Alleinerziehende Mütter, die arbeiten gehen, sind Rabenmütter, und wenn du nicht arbeiten gehst, bist du faul ... Ohne Hilfe von außen hätte ich nichts hingekriegt, dann wären die Kleine und ich auf der Straße gelandet ... Wir verlangen, dass Arbeitsplätze für Mütter gesichert sind; dass Kinderbetreuung kein Geld kostet; dass Ganztagsschulen für alle zur Verfügung stehen, dass man angstfrei leben kann.«
Wucht, Wut, Wille – gegen falsches Mitleid, gegen ein kaltes Sozialklima, gegen fehlenden Respekt. Das schlägt dir aus sechzehn Kehlen entgegen, das schlägt durch, das schlägt nieder, das schlägt an. Die stumme Rede der Frauen geht so: Solange man Geld verdienen muss, muss man sich beleidigen lassen.
Ein Junge wird zum Schluss vom Blatt lesen: »Tötet Hassenreuter, denn Hassenreuter tötet die Kunst!« So hatte Schlingensief einst gefordert, Kohl zu töten. Hassenreuter (bei Rainer Galke ein berückend komischer Sprühdampfer der Gala-Gockelei) tötet die Kunst, indem er in schmieriger Selbstbesoffenheit, zum Düsseldorfer Theaterdirektor ernannt, sein Eventprogramm verkündet – alles, was unter Garantie Publikum hereinschaufelt: Heino singt Heine; Trainer Morinho inszeniert »Bernarda Albas Haus« mit der deutschen Nationalelf, und natürlich heißt das Schauspielhaus fortan »Burgtheater«.
Lösch so leicht und lustvoll selbstironisch – und doch mit kraftvoll durchgehaltener Konsequenz eines sozial verpflichteten Bedrängers. Einmal steht der Chor der Mütter still und stumm auf der Bühne. Steht und steht (so hatte vor vielen Jahren Einar Schleef, hier in Düsseldorf, die gesamte Personage seiner »Salome« minutenlang stehen und wirken lassen). Eine Zwiesprache der bloßen Anschauung. Die ausgehalten werden will. Blicke gehen zwischen Bühne und Zuschauerraum aufeinander zu, aber da meldet sich auch das Empfinden, wie entfernt voneinander man doch lebt – in einer Welt, die in sozialer Hinsicht eben überhaupt nicht so unteilbar ist, wie gern behauptet wird.
Am Ende wird sich der Vorhang noch einmal öffnen für ein weiteres Stillleben: die Kinder dieser Frauen. Auch sie stehen und schauen uns an. Lange. Traurig? Flehend? Vorwurfsvoll? Deutung gelingt nicht. Sie schweigen, wie vorhin ihre Mütter. Aufreizend ausdrucksfrei. Als wüssten sie schon (zu) viel vom Leben. Als wolle dies Bild fragen: Wie schweigsam muss man werden, um ganz einverstanden mit sich zu sein? Bravo!
Nächste Vorstellung: 23. Januar