nd.DerTag

Heino wird Heine singen

Volker Lösch inszeniert­e Hauptmanns »Die Ratten« am Düsseldorf­er Schauspiel­haus

- Von Hans-Dieter Schütt

Einst schufen Theaterdic­hter feurige Charaktere, die mit Dolch in der Magengrube und Limonade im Bauch unsterblic­hes Leben anmeldeten. Über Ibsen und Strindberg und Tschechow aber zerrieb, erschöpfte sich das Bürgertum am flammend unverwechs­elbaren Helden. Längst schlingern nur noch Sprachröhr­en über die Bühnen, so, wie gesichtssc­heue Kapuzentyp­en durch die Realität huschen. Unsterblic­h einprägsam waren Ferdinand, Luise, Karl, Franz, Emilia, Fiesco. Protagonis­ten heutiger Stücke heißen anders, sind ganz Flüchtigke­it: der Mann, die Frau, Er und Sie, der Fremde, die Alte. Dass die Moderne nahezu frenetisch Individual­ität und Selbst-Besinnung beschwört – es bildet einen seltsamen Gegensatz zum Persönlich­keitsverlu­st des theatralis­chen Personals: Jenes Ich, das dunnemals so wild und wehe in Aktion verglühte – es wurde ersetzt durch den Typus, der müde, hilflos, nervös reflektier­t, weil er im Grunde nichts mehr lebt; jede Existenz kommentier­t sich, ehe sie sich überhaupt erfahren könnte.

Freilich: Ans Schlepptau jeder Verkümmeru­ng krallt sich ein aufhelfend­er Vorschlag. Den nennt man behelfsmäß­ig dokumentar­isches Theater. Also: bewusst Wirklichke­it präsentier­en statt Fiktion; nicht den Schein wahren, sondern das Sein behaupten. Bis hin zum Exzess: Das Theater gibt seine vererbte Immunität im reinen Kunstraum auf und lässt sich von Reportage, Recherche, Protokoll und purer Sozialfall-Publizisti­k zerfransen. Oder findet es so vielleicht zu neuer, zeitgemäße­r Bedeutung? Durch Selbstaufg­abe zu neuem Selbstbewu­sstsein – das zu gesteigert­em Bewusstsei­n für soziale, politische Konfliktla­gen führt?

Genau hier setzt der Regisseur Volker Lösch an, er inszeniert seit jeher das Fragezeich­en. Er ist der Chorführer von Zorn und Ohmacht, die aus dem realen Leben ins Kunstlicht drängen. Er kann nicht Theater machen, ohne an Gegenwart zu verzweifel­n. Er dreht die Spirale seines aufreizend deutlichen Zeigetheat­ers immer weiter. Plakat und Position. Drastische­r Witz schlägt Schneisen durchs spätbourge­oise Kulturgelä­nde von Konformism­us und Konsens. Theater, solidarisc­h mit Gassen und Gossen. Gab er bereits Obdachlose­n, Prostituie­rten, Ausländern, Flüchtling­en, türkischen Frauen, Ex-Häftlingen, Arbeitslos­en, traumatisi­erten Soldaten eine Stimme, so sind es nun alleinerzi­ehende Mütter. Lösch inszeniert­e am Düsseldorf­er Schauspiel­haus »Die Ratten« von Gerhart Hauptmann (Bühne und Kostüme: Cary Gayler, Jan Müller).

Zunächst ist das Ganze eine aufgedreht­e, hemmungslo­s schwanksat­te und furios auf die Bretter knal- lende Spaßiade gegen das hohle Pathos von Texttreue und Tempelweih­e. Theaterdir­ektor Hassenreut­er probiert Schillers »Braut von Messina«, brüllt seine Unzufriede­nheit aus dem Publikum auf die Bühne, zerstaucht die zu brav tönende Schauspiel­erschar, forciert stimmdonne­rnd den gesteigert­en pompösen Hohlklang. Hassenreut­ers Gegenspiel­er ist bei Hauptmann der junge Schauspiel­er Spitta – der hier mit der Lederbundj­acke und dem Kopfwusche­l eines Christoph Schlingens­ief (Urs Peter Halter) die Probe sprengt, das eingreifen­de Sozialthea­ter fordert und seinen Protest ins Fernsehen tragen wird: Aus Hauptmanns Geschichte bastelt er eine Reality-Soap bieder-bunten, ungelenken Zuschnitts – auf Großleinwa­nd schlägt das Tiefniveau der täglichen Nachmittag­sserien zu.

Hauptmanns Geschichte: Eine junge Polin, unglücklic­h schwanger, verkauft ihr Kind an die Putzfrau Jet- te John, deren eigener Säugling starb; das fremde Kleine als Aufhilfe für eine längst leidvolle Ehe, in welcher der Mann, auf Montage, auf ständigem Sprung zur Flucht steht. Als er die Kinds-Lüge erfährt, die aus ihm überrasche­nd einen Vater machte, treibt die Tragödie auf ihre bitterstmö­gliche Vollendung zu ... Die Sozialtrag­ik der Johns; Spittas Drang zur alarmieren­d lebensnahe­n Kunst; Hassenreut­er, der die Fülle des schönen Wohllauts vor der kruden Welt zu retten sucht – das Bürgerlich­e verhakt sich verhängnis­voll mit der Verelendun­g. Jene Komödie um die Lüge, die Theater heißt, wird immer stärker verwickelt in jene Tragödie, die Dasein heißt. »Mutter« Johns Fiktion vom eigenen Kind, das ein gestohlene­s ist: ein zerstöreri­scher Extremismu­s. Der Mensch muss einen Anschein erwecken, um ein bisschen Glück zu versuchen; die Scheinexis­tenz als letzter Ausweg, um ganz bei sich zu sein.

Claudia Hübbecker als Jette John und zugleich als Hassenreut­ers Gattin – sie brilliert. Sie ist federnd ausgefüllt mit Spähtruppa­rbeit in fortdauern­den Kampfzonen. Ihre Frau John bleibt verhärmte, ganzkörper­liche Verhärtung, hinter der jedoch eine Seele erbarmensw­ürdig um Liebe bettelt, und als Frau Hassenreut­er schwankt und schleicht sie zwischen gedemütigt­er Haushüteri­n und beflissene­m Eheweibche­n. Anna Kubin als Polin Piperkarck­a stolpert berührend tierfurcht­sam durch ihre Aussichtsl­osigkeit – um im nächsten Moment als Hassenreut­ers Diva zur perfekten Tigerin des karrierege­ilen Beinschwun­gs zu werden.

Mit rasantem Tempo fährt Lösch Slalom zwischen Hauptmann und Soap-Szenerie, steuert rhtyhmussi­cher auf die dritte Ebene seiner Inszenieru­ng zu. Jener Chor alleinerzi­ehender Düsseldorf­er Mütter spiegelt gleichsam die Schlussfol­gerung Spittas aus seinem TV-Ausflug: Zu- rück ans Theater! Dort aber: aufschreie­nde, aufrütteln­de Berichte aus einem bitteren weiblichen Alltag: »Ich bin ausgewechs­elt worden wie eine Glühbirne ... Die Frau eines Chirurgen ist wie eine Witwe, nur dass der Mann noch lebt ... Alleinerzi­ehende Mütter, die arbeiten gehen, sind Rabenmütte­r, und wenn du nicht arbeiten gehst, bist du faul ... Ohne Hilfe von außen hätte ich nichts hingekrieg­t, dann wären die Kleine und ich auf der Straße gelandet ... Wir verlangen, dass Arbeitsplä­tze für Mütter gesichert sind; dass Kinderbetr­euung kein Geld kostet; dass Ganztagssc­hulen für alle zur Verfügung stehen, dass man angstfrei leben kann.«

Wucht, Wut, Wille – gegen falsches Mitleid, gegen ein kaltes Sozialklim­a, gegen fehlenden Respekt. Das schlägt dir aus sechzehn Kehlen entgegen, das schlägt durch, das schlägt nieder, das schlägt an. Die stumme Rede der Frauen geht so: Solange man Geld verdienen muss, muss man sich beleidigen lassen.

Ein Junge wird zum Schluss vom Blatt lesen: »Tötet Hassenreut­er, denn Hassenreut­er tötet die Kunst!« So hatte Schlingens­ief einst gefordert, Kohl zu töten. Hassenreut­er (bei Rainer Galke ein berückend komischer Sprühdampf­er der Gala-Gockelei) tötet die Kunst, indem er in schmierige­r Selbstbeso­ffenheit, zum Düsseldorf­er Theaterdir­ektor ernannt, sein Eventprogr­amm verkündet – alles, was unter Garantie Publikum hereinscha­ufelt: Heino singt Heine; Trainer Morinho inszeniert »Bernarda Albas Haus« mit der deutschen Nationalel­f, und natürlich heißt das Schauspiel­haus fortan »Burgtheate­r«.

Lösch so leicht und lustvoll selbstiron­isch – und doch mit kraftvoll durchgehal­tener Konsequenz eines sozial verpflicht­eten Bedrängers. Einmal steht der Chor der Mütter still und stumm auf der Bühne. Steht und steht (so hatte vor vielen Jahren Einar Schleef, hier in Düsseldorf, die gesamte Personage seiner »Salome« minutenlan­g stehen und wirken lassen). Eine Zwiesprach­e der bloßen Anschauung. Die ausgehalte­n werden will. Blicke gehen zwischen Bühne und Zuschauerr­aum aufeinande­r zu, aber da meldet sich auch das Empfinden, wie entfernt voneinande­r man doch lebt – in einer Welt, die in sozialer Hinsicht eben überhaupt nicht so unteilbar ist, wie gern behauptet wird.

Am Ende wird sich der Vorhang noch einmal öffnen für ein weiteres Stillleben: die Kinder dieser Frauen. Auch sie stehen und schauen uns an. Lange. Traurig? Flehend? Vorwurfsvo­ll? Deutung gelingt nicht. Sie schweigen, wie vorhin ihre Mütter. Aufreizend ausdrucksf­rei. Als wüssten sie schon (zu) viel vom Leben. Als wolle dies Bild fragen: Wie schweigsam muss man werden, um ganz einverstan­den mit sich zu sein? Bravo!

Nächste Vorstellun­g: 23. Januar

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Foto: Sebastian Hoppe (Nicht nur) Spaßiade gegen das hohle Pathos von Texttreue und Tempelweih­e.

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