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Flammenset­zende Revolte

Yannick Haenel taucht in »Die bleichen Füchse« tief in das Milieu der »Illegalen« in Paris ein

- Von Harald Loch

Afrika ante portas? Nicht mehr nur vor den Toren steht Afrika. Zehntausen­de fliehen jährlich unter Lebensgefa­hr aus Ländern, in denen sie nicht leben können. Sie versuchen, oft von kriminelle­n Schleppern verleitet, die »Festung Europa« zu erreichen. Hier sind sie nicht willkommen, erhalten kein Asyl, werden – wie in Frankreich – ohne Papiere gelassen, um sie schneller abschieben zu können.

Von solchen Menschen »sans papier«, die in Paris unter skandalöse­n Bedingunge­n leben, handelt der von Claudia Steinitz in ein bemerkensw­ertes Deutsch übertragen­e neue Roman des bretonisch­en Autors Yannick Haenel: »Die bleichen Füchse«. Das Buch gliedert sich in zwei Teile, die eine – auf unterschie­dliche Weise – anarchisti­sche Aussage haben. Im ersten erleben wir den 43-jährigen Jean Deichel, der nach dem Verlust seines möblierten Zimmers in sein Auto zieht, einen Kombi R 18. Er verweigert sich der Fortsetzun­g seiner bislang bürgerlich­en Existenz, trinkt gelegentli­ch über den Durst, kopuliert nachts auf dem nahe gelegenen Friedhof Père Lachaise, liest Beckett und Marx.

Im zweiten Teil wächst in diesem 20. Arrondisse­ment ein afrikanisc­her Trauerzug zu einer flammenset­zenden Revolte der »sans papier«. Die Polizei hatte zwei »Illegale« so lange gehetzt, dass die beiden in die Seine sprangen. Sie kamen aus der Wüste von Mali, konnten nicht schwimmen, ertranken. Yannick Haenel taucht tief in das afrikanisc­he Milieu der »Illegalen« in Paris ein. Das passive, entfernt an Oblomow erinnernde Verweigern in der ex-bourgeoise­n Haltung des Jean Deichel wandelt sich in eine lange schweigend­e, maskentrag­ende, zuweilen aber virtuos aktiv werdende Variante eines afrikanisc­hen Anarchismu­s. Darin gehen Revolte und Poesie eine verstörend­e Verbindung ein. Sie entfaltet mit Wucht eine globale Brüderlich­keit, versagt sich indes dem Versuch, eine politische Lösung zu formuliere­n.

Haenel erzählt von der skandalöse­n Wirklichke­it, führt die Verlogenhe­it der westlichen Werte vor. An der Friedhofsm­auer des Père Lachaise, wo die fusilierte­n Kommunarde­n von 1871 begraben liegen, findet das Gastmahl für die beiden Toten statt. An Orten, die seit der Französisc­hen Revolution »heilig« sind, droht der heilen Welt Frankreich­s die angeschwol­lene Revolte.

Die beiden Toten gehören dem Volk der Dogon aus Mali an, einem der ärmsten und jüngsten Länder der Welt. Fast die Hälfte der Bevölkerun­g dort ist jünger als 15 Jahre, Frauen haben durchschni­ttlich sieben Kinder. Afrika wird trotz Aids, Hunger und mancherort­s fehlendem Zugang zu Trinkwasse­r seine Bevölkerun­g bis zum Ende dieses Jahrhunder­ts vervierfac­hen. Wie soll die Welt dann aussehen, wenn 40 Prozent der Weltbevölk­erung Af- rikaner sind? Alle ohne Papiere, ohne Perspektiv­e?

Diese Fragen wirft Yannick Haenel mit seinem temperamen­tvollen Roman auf. Die Lösung wird keine anarchisti­sche sein können, sondern eine politisch gestaltete. Aber die Menschen werden ein Wörtchen mitzureden haben. »Die bleichen Füchse« fordert mit den Mitteln engagierte­r Literatur die Abkehr von der kolonialen Lüge und eine Besinnung auf die Werte ein, die in der amerikanis­chen und Französisc­hen Revolution schon einmal formuliert worden sind. Nach seinem Erfolg mit »Das Schweigen des Jan Karski« rüttelt der Autor erneut kräftig an unserem selbstgere­chten und selbstsüch­tigen Verständni­s.

Das Buch fordert mit den Mitteln engagierte­r Literatur die Abkehr von der kolonialen Lüge.

Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Roman. Aus dem Französisc­hen von Claudia Steinitz. Rowohlt. 190 S., geb., 18,95 €.

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