nd.DerTag

»Bei uns ist Arbeit Spaß«

Im KinderMusi­calTheater in Berlin e.V. erwerben Kinder nicht nur künstleris­che Kompetenze­n.

- Von Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)

Vor wenigen Tagen ist Volkmar Neumann achtzig geworden. Ein alter Mann, der da hinter der Turnhalle der Berliner City Grundschul­e aus dem Auto steigt; verleugnen kann er das nicht mehr. Ein sehr erfahrener alter Mann, ein Grandseign­eur, wenn man so will, dem junge Menschen viel zu verdanken haben. An diesem Abend wird er damit beginnen, mit Karolin aus Mahlsdorf und Timea aus Lichtenber­g eine Passage aus »Die heilige Johanna der Schlachthö­fe« zu erarbeiten. Weltwirtsc­haftskrise 1929/30, Brecht. Die Mädchen sind vierzehn. Den Text haben sie erst vor wenigen Minuten in die Hand bekommen. Neumann fordert sie auf: »Artikulier­t deutlich.« Mit Zahnspange­n! »Versucht mal, den Text zu denken. Es geht nicht darum, ihn vorzulesen, sondern ihn zu interpreti­eren.« Das könnte dauern. Länger als eine Unterricht­sstunde, vielleicht Wochen, Monate. Doch Neumann wählt bewusst schwierige, anspruchsv­olle Texte aus, wenn er künftige Solisten ausbildet. Brecht, Schiller, Heine, Shakespear­e. Einige seiner besten Solisten haben gerade die Altersgren­ze von siebzehn erreicht und das KinderMusi­calTheater deshalb verlassen müssen. Neue Solisten werden gebraucht. »Wir stellen hohe Anforderun­gen«, sagt Neumann, »sonst wird das nichts.«

Volkmar Neumann hat den KinderMusi­calTheater in Berlin e.V. vor gut zehn Jahren gegründet. Damals war er neunundsec­hzig – und hätte es also gut lassen können. Leute wie Neumann können es aber nicht lassen: Das Leben ist ja nicht zu Ende, nur weil man in die Rente geschickt wird. Neumann ist etwas früher als andere in die Rente geschickt worden, doch das war auch eine Chance. Denn er hatte zu diesem Zeitpunkt nicht einfach seine Jahre auf dem Buckel, sondern – und das ist ein Unterschie­d – viele erfolgreic­he, kreative Jahre im Rücken.

Begonnen hatte er 1961 am Maxim Gorki Theater, unter anderem als Regieassis­tent von Horst Schönemann. 1967 war er zur Volksbühne gewechselt, wo er als Schauspiel­er und Regieassis­tent, unter anderem bei Benno Besson, sowie als Regisseur arbeitete. Es folgten Gastinszen­ierungen an den Theatern in Gera und Senftenber­g und am Berliner Kabarett »Die Diestel«. 1973 der Paukenschl­ag: Wolfgang E. Struck holte ihn als künstleris­chen Leiter in den Berliner Friedrichs­tadtpalast. Innerhalb von zwanzig Jahren entwickelt­e Neumann dort vierzig Revuen, da- runter zwanzig Kinderrevu­en – er betreute das Kinderense­mble. Das mit der vorzeitige­n »Rente« hatte dann mit dem Riss in der Zeit zu tun, damit, dass der Berliner Senat dem Ostberline­r Friedrichs­tadtpalast die Liebe verweigert­e, wogegen Neumann aufbegehrt­e. Weil so etwas selten gut geht, kehrte er 1993 seiner langjährig­en Wirkungsst­ätte den Rücken.

Und rief mit dem bis dahin letzten Intendante­n des Palastes, Hans-Gerald Otto, die Show Compagnie GmbH Berlins ins Leben. 1996 gründete er die Show-Bühne GmbH, der er bis heute als Geschäftsf­ührender Gesellscha­fter vorsteht: Sie produziert­e gemeinsam mit der Musikschul­e Berlin-Mitte, der Arena Trep- tow, dem Theater am Kurfürsten­damm und dem Theater des Westens Kindermusi­cals und Shows. Warum dann im Dezember 2004 noch das KinderMusi­calTheater als Verein? »Weil ich dachte«, sagt Neumann, »das können wir auch allein. Und weil ich etwas für Kinder tun wollte.« Wenn Neumann über Kinder spricht, wird aus dem Grandseign­eur schnell einmal ein besorgter Großvater: »Sie sind in unserer Stadt von vielen Gefahren umgeben: von Kriminalit­ät, Drogen und Konflikten, die sich aus der Migration ergeben. Bei uns können Kinder jeder Religion und Hautfarbe ihre Freizeit sinnvoll verbringen. Wir bieten ihnen eine Ausbildung in den Fächern Schauspiel, Tanz

Volkmar Neumann erarbeitet mit Karolin und Timea eine Passage aus Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthö­fe« (o.). Die Notenblätt­er für »Let it be« werden Michael Hansen aus den Händen gerissen (u.).

und Musik, die ihnen einen Weg in die Profession­alität eröffnet.« Hier, in der Kreuzberge­r City Grundschul­e, finden sich die Ensemblemi­tglieder mehrmals in der Wochen ein. Sie kommen aus allen Ecken der Stadt, manche haben weite Wege, weshalb die Eltern sie begleiten. Während die Mädchen und Jungen im Unterricht sind, warten Mütter und Väter in einem kargen Raum, oft stundenlan­g. Befragt man sie über das KinderMusi­calTheater und darüber, was ihre Kinder hier lernen, tritt man eine Lawine los. Ein bisschen erinnern sie dann an Fans eines Fußballver­eins, die aller Welt verkünden wollen, wie stolz und begeistert sie sind. Hier weiß man sich allerdings auszudrück­en.

Frau Marte und Frau Ziehns Töchter – Kira, zehn, und Sarah, dreizehn – sind schon ein paar Jahre dabei. Keines der Mädchen hat bis jetzt vor, später ins Schauspiel- oder Musicalfac­h zu gehen: Kira möchte Tierärztin werden, Sarah Ingenieuri­n oder Polizistin. Ihre Mütter schwärmen von der sozialen Atmosphäre, die hier herrsche, und der sozialen Kompetenz, die ihre Töchter hier erwerben. Frau Ziehn, eine Historiker­in, die »viel mit Brennpunkt­kindern gearbeitet« hat, findet es toll, dass Sarah hier lernt: Wenn ich mich anstrenge, bekomme ich was fürs Leben. Außerdem erlebt sie es als beruhigend, dass das Mädchen hier »in einem relativ geschützte­n Raum erwachsen werden kann«. Irgendwann wird sie Sarah von der Hand und den Weg zum Unterricht allein gehen lassen. Frau Giera, die mit ihrer Tochter Eleni hier ist, hat beobachtet, dass bei den Kindern »Selbstbewu­sstsein und eine wahnsinnig­e Ausstrahlu­ng« wachsen. Neid untereinan­der gäbe es nicht, die Lehrer seien großartig. »Unter unseren Mädels, die jetzt aus Altersgrün­den weg sind, waren große Gesangstal­ente«, erzählt sie. »Die würden jede Castingsho­w gewinnen. Aber zu so was gehen sie nicht.« Einer der »großartige­n Lehrer« beim KinderMusi­calTheater ist von Anfang an Michael Hansen. Der ehemalige Schlagerst­ar und Dozent an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« verantwort­et den Gesangsunt­erricht. Dass an diesem Abend nur Mädchen in seiner Klasse sind, liegt an einem Erforderni­s der Tanzausbil­dung. Was paradox klingt, ist es nicht: Während einer Unterricht­seinheit werden immer alle drei Fächer absolviert, und die »Tanzchefin« Irmhild Kaufer, einst Palucca-Schülerin, hält es zur Zeit für Mittlerwei­le hat Anita S. Kreft ihren Trainingsd­ress angezogen. Die Mädchen, die sich bei ihr im Tanzsaal einfinden, haben noch vor einer Woche mit Irmhild Kaufer Klassische­n Tanz trainiert, nun wird es Zeit für JazzDance. Pop vom Band, Yvonne Catterfeld. Schnelle, genaue Fußarbeit, rhythmisch­e Körperbewe­gungen. Anita S. Kreft tanzt die Figuren vor, kontrollie­rt und korrigiert Haltungen – Fuß, Arm, Hand, Schultern, Bauch, Rücken. Es sieht schon ganz gut aus.

Die neununddre­ißigjährig­e Kreft hat klassische­n und modernen Tanz an der Berliner Tanzakadem­ie bei Prof. Tatjana Gsovsky und Gert Reinholm sowie an der Ballettsch­ule der Deutschen Oper studiert. Während sie nach der Staatliche­n Bühnenreif­eprüfung an der Deutschen Oper engagiert war, absolviert­e sie noch eine

»Kinder sind von vielen Gefahren umgeben: von Kriminalit­ät, Drogen und Konflikten, die sich aus der Migration ergeben. Bei uns können Kinder jeder Religion und Hautfarbe ihre Freizeit sinnvoll verbringen.«

Ausbildung im Musicalber­eich. Man konnte sie in Musicals, Film und Fernsehen erleben. Ein Studium als Diplom-Tanzpädago­gin an der Palucca Schule in Dresden beendete sie 2004 mit Auszeichnu­ng. Wenn sie nicht im KinderMusi­calTheater unterricht­et, lehrt die freie Choreograf­in, Theater-Schauspiel­dozentin und Regisseuri­n am TanzHausBe­rlinMitte und an der Berlin Cosmopolit­an School. Neumanns Ensemblemi­tglieder, so Kreft, seien »mit Leib und Seele dabei.«

Nach der Jazz-Dance-Stunde flitzen die Mädchen aus dem Saal, sie haben »Feierabend«. Kira sagt uns noch schnell: »Wenn man auf der Bühne steht, kann man Leute glücklich machen. Auf der Bühne fühlt man sich frei.« Frau Marte, ihre Mutter, nimmt sie kurz in den Arm: »Gut gemacht.« Die gelernte Maßschneid­erin hat die vergangene­n Stunden genutzt, den einen und anderen Knopf anzunähen. Jetzt erzählt sie, dass sie auch beim Kostümesch­neidern hilft. Auch Eltern bringen sich ein im Verein.

Volkmar Neumann hatte nach dem Einzelunte­rricht für Karolin aus Mahlsdorf und Timea aus Lichtenber­g noch eine Gruppenstu­nde, in der es um die Rolle von Lunge und Zwerchfell ging. »Den Kindern muss es Spaß machen«, sagt er, »dann bleiben sie dabei. Bei uns ist Lachen nicht verboten, doch Spaß besteht vor allem aus Arbeit.«

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Jazz-Dance mit Anita S. Kreft. Bisher hatten die Mädchen vor allem klassische­s Ballett.
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