Glaskugel in Hightech-Version
Können Computer Verbrechen vorhersagen? Immer mehr Ermittler glauben daran
Berlin. Es klingt wie eine Science-Fiction-Idee – und ist auch eine: In der von Philip K. Dick 1956 verfassten und 2002 in Hollywood verfilmten Kurzgeschichte »The Minority Report« gehen Polizisten auf Verbrecherjagd, noch bevor die Übeltäter überhaupt ihre Tat begehen. »Präkogs« nannte Dick jene mutierten Polizisten mit Seherqualitäten, die in seiner düsteren Zukunftsgeschichte solche Prognosen abgeben. 60 Jahre später soll in Zürich ein Computerprogramm namens »Precobs« Wohnungseinbrüche voraussagen.
»Predictive Policing«, also vorhersagende Polizeiarbeit, nennt sich dieser technisierte Blick in die Glaskugel, der nun nüchterner als in Dicks Geschichte mit Hilfe von Algorithmen vollzogen wird. In zahlreichen US-amerikanischen Polizeiwachen wertet zu diesem Zweck bereits Software massenweise Daten aus. Auch Kriminalämter in Deutschland arbeiten an der Einführung oder wünschen sich derartige Technologien. Für deutsche Datenschützer ist dies eine Horrorvision.
Derartige Programme haben einen unermesslichen Hunger auf Daten. Gestillt werden könnte dieser auch durch eine langfristige Speicherung der Verbindungsdaten durch Kommunikationsanbieter. Obwohl der Euro- päische Gerichtshof eine entsprechende Richtlinie aus Brüssel gekippt und das Bundesverfassungsgericht deren Umsetzung in Deutschland gestoppt hat, ist nach Medienberichten eine neue Debatte darüber im Gange; inoffiziell ist eine solche Vorratsdatenspeicherung in Light-Version ohnehin längst Praxis.
Bleibt die Frage: Bringt das was? In der Welt von »The Minority Report« liegt der letzte Mord dank der »Präkogs« schon Jahre zurück. Doch der Preis ist eine totalitäre Gesellschaft, in der jeder potenzielle Straftäter im Internierungslager landet. Aber das ist nur Science-Fiction. Oder?
Das Verbrechen nach Mustern geschehen, ist nicht neu. Im Zeitalter von Big Data können diese Muster von Computern an Polizisten vor Ort gemeldet werden. Doch die Technik birgt enorme Gefahren.
Bayern hat es schon, NordrheinWestfalen hat eine Ausschreibung veröffentlicht, Berlin will es haben und auch aus Baden-Württemberg sind Signale zu hören, dass man an einer Software interessiert sei, die Vorhersagen für Einbruchsdelikte und andere Straftaten zu ermöglichen verspricht. Firmen wie IBM, Accenture und Oracle bieten so etwas an – und auch eine deutsche Firma ist dabei, das Oberhausener »Institut für musterbasierte Prognosetechnik« mit seiner Software Precobs (Pre Crime Observation System). »Predictive Policing«, das computergestützte Vorhersagen von Straftaten, soll feiner sein als das Bauchgefühl eines erfahrenen Polizisten, schwärmt Dieter Schürmann, der Direktor des LKA Nordrhein-Westfalens.
Solche Verfahren suchen nach Verbrechensmustern, um Vorhersagen für weitere Taten zu treffen. So, verspricht man, könne die Polizei die »Lage« beherrschen, sogar »vor der Lage« am Tatort sein, um den Täter zu verhaften.
Dazu ist eine Übersicht über enorme Datenmengen nötig. Um etwa in Berlin Einbrüche vorherzusagen, würden nicht zehn oder zwanzig Akten gebüffelt wie im »Tatort«Fernsehkrimi – sondern 12 159. Das ist die Zahl der 2014 in der Hauptstadt gemeldeten Einbrüche. Davon aufgeklärt sind gerade einmal 800. Kein Wunder, dass der Berliner Innensenator Frank Henkel von einer Software schwärmt, die in der Masse dieser Taten nach Mustern sucht und herausfindet, wie und wo die »schnell abreisenden Banden« zuschlagen. Nur solch eine Software könne die »Nähe des Ostblocks« aufheben, erklärte Henkel auf dem Berliner Polizeikongress vor wenigen Tagen.
Sehr ähnlich argumentiert Dieter Schürmann im Westen der Republik: »Stellen wir in einem Ort das gleichzeitige Aufkommen ausländischer Transportfahrzeuge und die Verwendung ebenso ausländischer Telefonkarten fest, und das in regionalen Bereichen, die sich für mobile Einbruchstäter aufgrund ihrer Lage, etwa in Grenznähe oder Nähe der Autobahn, besonders eignen, sollte man aufmerksam werden«, erklärte er das polizeiliche Bedürfnis nach Analysesoftware im »Behörden-Spiegel«.
Predictive Policing soll neue Zusammenhänge im öffentlichen Raum in ihrer »kriminogenen Dynamik« erkunden. Zunächst, so Schürmann, könne mit statischen Falldaten gearbeitet werden, dann sollen die »notleidenden Datenhalden« der Sonderdienste integriert werden. Schließlich könne durch die Einspeisung von Echtdaten aus der Polizeiarbeit und von externen Quellen (Wetter, Energieverbrauch, Internetnutzung) das Predictive Policing so scharf gemacht werden, dass »echte Zusammenhänge« erkannt würden.
Ob solche Software wirklich hilft, ist umstritten. Fernab der Landesgrenzen analysierte der niedersächsiche LKA-Mitarbeiter Alexander Gluba die Aussagen und Berechnun- gen der US-amerikanischen Firmen, die Software für das Predictive Policing anbieten. Sein Fazit: aggressives Marketing und unhaltbare Aussagen über verbesserte Aufklärungsquoten. Unklar bleibe, wie die Software im Detail arbeite; sie komme als »Black Box« daher: »Die Kenntnis darüber, wie und mit welchen Daten Progno- sen angestellt werden, ist wichtig, um einen Abgleich mit Gesetzen und Bestimmungen vornehmen zu können.«
Die Gefahr beim Predictive Policing ist, dass sich hinter der Fassade scheinbarer Objektivität stereotype Annahmen verbergen. So destillierte die Polizei in Chicago aus einer Liste von 13 000 Verdächtigen eine »Heat List« mit 400 farbigen Personen, die als potenzielle Gefährder gelten und präventiv von Beamten besucht wurden – ein Vorgehen, das der Aktivist Cory Doctorow als pseudowissenschaftliche Rassendiskriminierung brandmarkte.
In Bayern, wo das deutsche Precobs in München und in Mittelfranken im Probetrieb läuft, wunderten sich die Beamten über eine Einbruchserie, die Precobs nicht erkannte, weil Asylbewerber nicht berücksichtigt wurden. Entsprechende Kenndaten mussten in die Software eingepflegt werden.
Die Gefahr ist groß, dass mit Personendaten eine Pre-Verbrecherkartei erstellt wird. Besonders überzeugt scheint man von Precobs nicht zu sein: Der Freistaat Bayern hat ein Gesetz zur Verschärfung der Strafen bei Wohnungseinbrüchen in den Bundesrat eingebracht, nach dem Einbruchsdelikte in den Katalog der Straftaten aufgenommen werden, die eine Telefonüberwachung rechtfertigen. Nur so könne man den Banden auf die Spur kommen, heißt es in der Begründung.
Das »Time Magazine« hat die Technologie zu einer der besten Erfindungen des Jahres gekürt. Datenschützer warnen hingegen vor einem neuen Ausmaß der Überwachung. »Predictive Policing« – die kriminologische Auswertung riesiger Datenmengen – soll Verbrechen vorhersagen. Funktioniert das? Und wenn ja, zu welchem Preis? Die Gefahr beim Predictive Policing ist, dass sich hinter der Fassade scheinbarer Objektivität stereotype Annahmen verbergen.