Streifendienst nach Art der US-Armee
»Predictive Policing« wäre ohne die massive Überwachung der NSA nicht denkbar – und auch nicht ohne die Kriege der USA
In vielen amerikanischen Städten gehört »Predictive Policing« längst zum Alltag der Polizeiarbeit. Als Vorbild gilt ihnen das Vorgehen der US-Armee in Afghanistan und Irak.
Ein Jahr nach »911« bestätigte eine Enthüllung in der »New York Times« zum ersten Mal die schlimmsten Befürchtungen derjenigen, denen es beim gerade von der Bush-Regierung ausgerufenen »Antiterrorkrieg« mulmig geworden war. Am 9. November 2002 war in der Zeitung von der Existenz eines Überwachungsprogramms namens »Total Information Awareness« (TIA) zu lesen. Die Geheimdienste und Polizeibehörden bräuchten keine richterlichen Durchsuchungsbefehle mehr. Denn sie hätten automatischen Zugriff auf EMails, auf Daten von Telefongesprächen, Kreditkarten, Bankverbindungen und Reisedokumente.
Das Programm, das ein Senator als »das größte Überwachungsprogramm in der Geschichte der USA« kritisierte, stampfte der USAKongress Ende 2003 nach massiver Kritik wieder ein – zumindest formal. Zuvor war es, da »total« zu sehr nach Orwell klang, in »Terrorism Information Awareness« umbenannt worden. Dennoch: Die Softwareanwendungen blieben erhalten und wurden in den Jahren danach von den Überwachungs- und Polizeibehörden klammheimlich weiter ausgebaut, zuallererst von der finanziell und personell am besten bestückten National Security Agency (NSA).
Hinter dem TIA-Programm verbarg sich das Konzept des »Predictive Policing«. Hatten die Cops vor dem digitalen Zeitalter auf Land- und Stadtkarten mit farbigen Fähnchen bestimmte »Hotspots« des Verbrechens markiert, so eröffnete das neue Informationszeitalter ungeahnte neue Überwachungsmöglichkeiten. Das digitale Staubsaugerprinzip – ein Maximum an verfügbaren Daten – verspricht mithilfe ihrer algorithmischen Verarbeitung nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip Voraussagen, wann und wo ein Verbrechen statt- finden könnte.
Der schwache und in Bereichen, die Eigentum angehen, nahezu nicht existente Datenschutz hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die USA zu einem Staat der permanenten Rasterfahndung geworden sind, vor allem in den dicht bevölkerten Großstädten. Die Technologie für das »Predictive Policing« liefern private Unternehmen – aber auch die Armee der Vereinigten Staaten.
Ein Vorreiter ist die weltweit größte Polizeibehörde, das New York Police Departement (NYPD). Mitte der 1990er Jahre hatte die Behörde unter dem Hardliner-Bürgermeister Rudy Giuliani mit statistischen Analysen von Verbrechensraten, von Festnahmen und Verhaftungen und anderer Polizeiaktivitäten ein Programm namens »Compstat« entwickelt. Microsoft griff dem NYPD mit digitaler Technologie für ein »Domain Awareness System« unter die Arme. Damit verfügt die Polizei der größten US-amerikanischen Stadt nicht nur über Daten aus mehr als 3000 Überwachungskameras, Kriminalstatistiken, Notrufen und Datenbanken über Pkw-Kennzeichen, sondern auch über ein System zu deren Verarbeitung und Auswertung. Auf Grundlage von Daten und Empfehlungen von »Compstat« beschließen die Polizeioberen auf wöchentlichen Treffen die Schwerpunktarbeit im Polizeialltag.
Ein noch weiter fortgeschrittenes Beispiel ist das kalifornische Los Angeles an der US-Westküste. Das alternative Gratiswochenblatt »LA Weekly« warf im letzten Jahr unter der Überschrift »Vergesst die NSA – die Polizei von LA spioniert Millionen von Unbescholtenen hinterher« einen Blick auf dortige Polizeipraktiken. Der Bericht beruhte auf einer erfolgreichen Bürgerrechtsklage, die die Polizeibehörde LAPD zur Herausgabe einiger Informationen gezwungen hatte. Demnach sammelte die Behörde 160 Millionen Dateneinträge nur über Autofahrer mithilfe von Überwachungskameras an Autobahnen, Kreuzungen und Verkehrsknotenpunkten. Die Daten werden mit verfügbaren Informationen aus dem Internet, etwa auch Einträgen in Diensten wie Facebook und Twitter kombiniert.
Die algorithmische Verarbeitung und die Computerempfehlungen für die Polizeiarbeit erfolgen dabei mit Software, die auch von der Armee in Irak und Afghanistan benutzt wurde. Die Einordnung geschieht laut »LA Weekly« auf Basis von Kriterien, die bei der »Aufstandsbekämpfung in Irak und aufgrund von Mustern von zivilen Todesfällen in Afghanistan« erstellt wurden. Auch die Überwachungskameras in Los Angeles seien mit militärisch erprobter Gesichtserkennungssoftware ausgestattet.
Der schwache Datenschutz hat die USA in einen Staat der permanenten Rasterfahndung verwandelt.