Mehr Geografie als Biografie
Die multikulturellen Wurzeln israelischer Dichter und Dichterinnen
»Die Rede ist die Brücke vom Gestern zum Heut und vom Du zum Ich«, schrieb der deutsch-jüdische Dichter Arijeh Ludwig Strauß (1892-1953). Wie alle Schriftsteller mit zweifacher Heimat baute auch Strauß in seinem Schreiben immer wieder Brücken: sei es zwischen der deutschen und der jüdischen Kultur, oder zwischen der teils weltlichen, teils religiösen hebräischen Poesie im mittelalterlichen Spanien einerseits, und der europäischen Moderne im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts andererseits.
Die Dichter seiner Generation sind durch die Wechselfälle der Geschichte heimatlos geworden – Lea Goldberg (1911-1970) sagte einmal, ihre Zeitgenossen hätten mehr Geografie als Biografie –, doch andererseits war diese Generation, auf besondere Weise, nicht nur in einer Kultur zu Hause. Abraham Sonne (1883-1950) nahm den hebräischen Familiennamen Ben Yitzhak an, wobei er die biblische Ordnung gewissermaßen umkehrte: Abraham ist der Vater Isaaks. Jehuda Amichai (19242000), der in Würzburg noch Ludwig Pfeuffer geheißen hatte, wählte als Erwachsener einen Familiennamen, der »Mein Volk lebt« bedeutet. Natan Zach (geb. 1930) trug in Berlin den Namen Harry Seitelbach; Tuvia Rübner (geb. 1924) war in Bratislava Kurt Tobias Rübner, und auch Dan Pagis (1930-1986) trug in Radautz, Bukowina, einen anderen Namen.
Viele Dichter stammen also aus Randgebieten der deutschen Kultur, in Israel jedoch betrachtete man sie als deren zentrale Vertreter. Eine herausragende Gestalt ist in dieser Hinsicht Lea Goldberg. Sie wurde zwar in Königsberg geboren (das heutige Kaliningrad, eine russische Exklave zwischen Polen und Litauen – damals eine Stadt am nördlichen Rande Ostpreußens), doch kurz nach ihrer Geburt zog die Familie ins litauische Kaunas. Sie studierte in Berlin, promovierte in Bonn und galt nach ihrer Alija nach Erez Israel im Jahre 1935 in der modernistischen hebräischen Schriftstellergruppe »Jachdav« als »deutsche« Dichterin.
Das Bild wird noch komplizierter, wenn man bedenkt, dass die meisten dieser Schriftsteller seit frühester Jugend mehrsprachig waren. So wuchs Goldberg mit Russisch und Deutsch auf, hörte zu Hause außerdem Jiddisch; hatte Latein, Englisch und Litauisch gelernt und kam erst als achtjährige Schülerin zum Hebräischen. Dieses Sich-Bewegen zwischen den Kulturen, das weder Anfang noch Ende kennt, diese sich in Raum und Zeit vollziehende, anscheinend kontinuierliche Bewegung von den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute ist unverkennbar von grausamen Einschnitten und Brüchen geprägt – hauptsächlich infolge des Zweiten Weltkriegs und der Schoa, sowie der durch sie verursachten Migration.
»Und die Migration meiner Eltern findet keine Ruhe in mir«, schreibt Jehuda Amichai, »Das Blut schwappt noch in meinen Wänden, / auch dann, als das Gefäß längst wieder auf seinem Platz steht.« In einem anderen Gedicht stellt Amichai Bezüge her, wie es sie nur in der Dichtung geben kann, nämlich zwischen »Brehms Tierleben« des deutschen Zoologen Alfred Edmund Brehm (1829-1884) und seinem 1948 getöteten Freund. So wird auf überraschende Weise Brehms populäres Buch, das seinen Erfolg sicher auch der national-romantischen Stimmung in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts verdankt, nach über hundert Jahren mit einem im israelischen Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten in Verbindung gebracht.
Auch diese Kontinuität ist voller Brüche. Gleichzeitig bergen diese Brüche sehr viel Spannungspotenzial, denn sie allein ermöglichen die Bewegung zwischen solch binären, Gegensätzen wie: Vergangenheit/Gegenwart, Migration/Rückkehr, Hebräisch/Deutsch, Heimat/Fremde, Deutschland/Israel. Ja, paradoxerweise lösen erst diese Brüche eine echte, festgefahrene Kon- ventionen überwindende Bewegung aus. Selbst der Torso aus dem Gedicht Tuvia Rübners, der erbarmungslos vom Zahn der Zeit angefressen ist, könnte trotz all seiner Mängel Frieden finden, so er denn beweglich wäre: Nicht zu leugnen, – ihr seht es: ich bin bloß ein Torso.[…] Ein Torso will kein Torso sein selbst wenn es kein Jammer ist dass die Hände fehlen, denn wozu allem sind die fähig![…] Das wahre Ungeschick sind die Beine diese schlauen Burschen, die es zuwege brachten zu entkommen und mich zurückzulassen. Aus der Einleitung von Giddon Ticotsky und Lina Baouch »Zukunftsarchäologie. Eine Anthologie hebräischer Gedichte« (Übers. Gundula Schiffer, Verlag Vittorio Klostermann, 88 S., geb., 16,80 €; ).