Die Mehrzahl von Wand
»89/90« – Peter Richter erzählt eine andere Version der Legende vom deutsch-deutschen Taumel
Es gibt einen Bruch in Peter Richters Buch, der im denkbar schlichten Titel durch nichts weiter als einen Schrägstrich markiert ist – »89/90« –, und es ist diese Markierung, die aus Freunden Feinde werden lässt, aus Frieden Krieg. Ja, Krieg. Anders kann man die blutigen Schlachten nicht bezeichnen, von denen im zweiten Teil des in der Mitte geteilten Buches berichtet wird; ein Bürgerkrieg zwischen Rechten und Linken, bewaffnet geführt, brutal und zunehmend mordlustig. Der Kriegsschauplatz heißt Dresden, die meisten Kämpfer sind – wie der Erzähler – nicht älter als sechzehn, siebzehn. Es sind dieselben Jugendlichen, die sich nun auf den Straßen bis auf den Tod bekämpfen, die noch im vergangenen Sommer die Nächte gemeinsam im Freibad verbracht hatten – illegal, ohne Bademeister und nörgelnde Kinder und manchmal, bis die Volkspolizei kam und sie vertrieb. Na und! Mehr Freiheit als damals, in jenem letzten Sommer der DDR, war nie. So steht es bei Richter: »besser konnte es gar nicht mehr werden«.
Schon dieser kleine Satz lässt aufhorchen, weil er diametral gegen fast alles steht, was heute so geredet, geschrieben und gelehrt wird über den seine Insassen Tag und Nacht gängelnden Unrechtsstaat. Wie kann es sein, dass ein Jugendlicher ausgerechnet in diesem hunderttausend Quadratkilometer großen Gefängnis sein höchstes Glück erlebt?
Vielleicht gehört dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit zu jeder Jugend, egal wann und wo sie gelebt wird. Spezifisch für die Endzeit der DDR war aber das Aufeinandertreffen einer jungen Generation, die zu großen Teilen längst keinen Pfifferling mehr auf den real existierenden Sozialismus gab und sich kulturell westwärts orientierte, auf verunsicherte Autoritäten, die in ihrem Changieren zwischen Zugeständnis und harter Hand bald nur noch verlacht wurden. Es kommt in Richters Buch eine einzige Gleichaltrige vor, die mit 18 in die SED eintreten will und sich selbst eine Kommunistin nennt. Diese Exotin, in die der ganz anders tickende Erzähler sich gewiss nicht zufällig verliebt, stellt einmal fest, dass »das Nichtmitmachen« all der sie umgebenden Nonkonformisten »selber schon wieder eine Massenbewegung war«. Ganz unrecht hat sie damit nicht.
Die Freiheiten jedenfalls, die einem nicht offiziell gewährt wurden – davon erzählt Peter Richter –, die nahm man sich einfach. Manchmal hatte das Konsequenzen, aber selten noch so schwere, dass man sie nicht in Kauf zu nehmen bereit gewesen wäre. Natürlich war diese aufkeimende Renitenz immer noch ein ziemlich riskantes Balancieren über dem Abgrund. Aber was wäre eine Jugend ohne Risiko? An der Stelle, an der Richter von der vormilitärischen Ausbildung seiner Altersgenossen im Wehrlager in der Sächsischen Schweiz berichtet, stockt dem Leser der Atem, als einer der Jungs sich erdreistet zu sagen, er komme sich hier vor wie bei der Hitlerjugend. »Danach Stille«, schreibt Richter. »Alle warteten darauf, dass der Himmel sich auftat oder wenigstens der Mund des Lagerleiters. Aber es geschah: nichts.«
Doch, es geschah etwas. Nur eben nicht das erwartete Donnerwetter von oben. Was aber geschah in diesen letzten Monaten der DDR, das war ein Knistern in den unteren Etagen. Zunächst kaum zu bemerken, frisst es sich in kleinen Rissen auch schon durch den ersten Teil von Richters Buch, ehe es kracht und sich der beschriebene Riss auftut. In besagtem Wehrlager im Sommer ’89 hört der Erzähler zum ersten Mal den Ausdruck »einen Neger abseilen«, als einer aufs Klo muss. »Ich sage: Wow! Nazi? – Er: Du nicht?« Der Zerfall des Dresdner Freundeskreises, von dem hier erzählt wird, in einander be- kämpfende Linke und Rechte bahnte sich an, bevor die Mauer kollabierte. Ja, es gab auch damals schon welche, die sich die Haare schoren, Bomberjacken aus dem Westen trugen, mit der Nazi-Ideologie kokettierten und auch öffentlich provozierten.
Den großen Bruch aber, den datiert Peter Richter auf die Tage unmittelbar nach dem Mauerfall. Plötzlich waren, so lesen wir, alle Dämme gebrochen. Auf den Dresdner Montagsdemos verschwinden nun die Plakate für Pressefreiheit und gegen die Vormachtstellung der SED in die hinteren Reihen. Stattdessen »riefen ganze Chöre plötzlich pausenlos gar nichts anderes mehr als immer nur: Deutschland!«. Und was für ein Deutschland sie meinen, auch daraus machen manche nicht länger einen Hehl, nämlich ein »Deutschland in den Grenzen von 1937«.
Auf diesen Demonstrationen dämmert es dem Erzähler, der einige Wochen darauf – während Helmut Kohl bei seiner Rede vor der Ruine der Frauenkirche die Vision von der deutschen Einheit ereilt – als »Roter« durch Dresdens Straßen gejagt werden wird. »Es war zu spüren«, schreibt Richter, »dass es später einmal, wie beim 17. Juni, zwei Versionen der Geschichte geben würde, eine von mutigen Bürgern und eine vom neofaschistischen Mob. Und da waren Leute dabei, für die wäre das noch nicht mal ein Schimpfwort gewesen, im Gegenteil, die sahen sich selber so.« Für die nun aus dem Westen einrückenden Neonazikader war es ein leichtes, solche Leute in ihrem Sinne zu »schulen« und zu steuern. Radikalisiert werden mussten sie kaum noch. Radikal waren sie schon. Und selbst wenn der Erzähler und seine Freunde meist nicht Jäger, sondern Gejagte sind – auch ihnen, den plötzlichen Hausbesetzern und Szenekneipenbetreibern und Gründern und Verteidigern der »Bunten Republik Neustadt« mangelt es nicht an Bereitschaft zur Gewalt. Nicht nur einmal werden aus diesen Angegriffenen selbst Angreifer.
Peter Richter, 1973 in Dresden geboren, ist einer der lesenswertesten Feuilletonisten seiner Generation. Der studierte Kunsthistoriker gehört zweifelsfrei zu den »Wendegewinnern«, jahrelang war er Redakteur im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, heute lebt er als Kulturkorrespondent der »Süddeutschen Zeitung« in New York. Richters Texte – ganz gleich, ob es darin um das Design eines neuen BMWModells, um die dämlichen Nazivorwürfe gegen Christian Krachts jüngsten Roman oder um eine von Peter Sodann und Norbert Blüm verzapfte Kabarettkatastrophe geht – bestechen durch gezieltes Urteil, bissige Polemik und glänzenden Stil. Erst kürzlich meldete sich der Neu-NewYorker, der seine Heimatstadt nicht loswird, mit einem furiosen Essay zu Wort, der den Bogen vom Dresdner Erich Kästner bis zu den jüngsten Pegida-Aufmärschen schlägt. »Angst«, schreibt Richter da über die »besorgten« Demonstranten, »Angst ist nun wirklich das einzige, was hier niemand ausstrahlt, sondern höchstens einflößt.«
Womöglich sind einige der schmerbäuchigen Pegida-Demonstranten von heute identisch mit den kaum volljährigen Glatzen aus Richters Buch, das zwar »Roman« heißt, vielmehr aber den Charakter der Memoiren eines gebrannten Kindes trägt. Vollblutjournalist, der Richter ist, bringt er die ihn prägenden Erlebnisse immer in Verbindung mit den einschneidenden politischen (und kulturellen!) Ereignissen dieser Zeit. Teils liest sich das, als hätte er nach über zwei Jahrzehnten eine große Kiste geöffnet, in denen er Dokumente von damals – Flugblätter und Filmprogramme, Zeitungsschnipsel und Wahlplakate, Theaterprogramme und Getränkekarten – aufbewahrt hatte. Wie Peter Richter diesen Dokumenten und Erinnerungen aber Leben einhaucht – geschliffen und unsentimental, gelegentlich aber mit dosier- tem Humor und nicht ganz ohne Eitelkeit – das hat man so noch nicht gelesen. Das etikettenschwindlerische Label »Roman« lässt sich eigentlich nur damit erklären, dass dieser Autor keine Lust hatte, sich gerade das zu verwehren, was er am besten kann: Dinge auf den Punkt bringen, indem er sie zuspitzt, den Kern des Tatsächlichen freilegen, indem er ihm dramaturgisch auf die Sprünge hilft, das Authentische glaubhafter machen, indem er pointiert hinzuerfindet.
Um einen Roman handelt es sich auch formal nicht, eher um einen autobiografischen Essay, den man als Pendant zu Clemens Meyers »Als wir träumten« lesen kann, dem eigentlichen Roman über das Erwachsenwerden nach der »Wende« – ein damals von niemandem häufiger als von Egon Krenz gebrauchtes Wort, über das in »89/90« einmal jemand spöttelt: »Ist das nicht die Mehrzahl von Wand?« Richters Buch indessen ist gespickt mit Fußnoten, die den nicht DDR-sozialisierten Lesern erklären, was sich hinter Abzeichnungen wie POS und EOS verbirgt, welche Bedeutung der Film »Beat Street« für die Generation des Erzählers hatte oder welche Aufgaben ein Wandzeitungsredakteur zu übernehmen hatte. Die Namen der Figuren, von denen er erzählt, sind mit einem einzigen Buchstaben abgekürzt – wie die von lediglich Verdächtigen in der Gerichtsberichterstattung.
Eine dieser Figuren, der besonders schlagkräftige H., bekommt wegen seiner Obelixhaftigkeit immerhin einen Spitznamen: das »Baby«. Und am Beispiel dieses »Babys«, das die gewalttätige Enthemmung jener Zeit besonders eindrucksvoll verkörpert, beantwortet der Erzähler die Frage, wie aus Freunden Feinde, wie aus Frieden Krieg, wie aus dem »Baby« ein brutaler Schläger werden konnte, in verblüffender Schlichtheit: »Weil das ging. Und weil das Spaß machte.«
Das »Jahr ohne Autoritäten«, das war das Jahr, als an den Schulen plötzlich jene Lehrer verschwanden, die jetzt nicht mehr als tragbar galten, es war das Jahr, als die Eltern die Kinder aus den Augen verloren, weil sie genug mit sich selbst zu tun hatten, das Jahr auch, in der die Polizei, wie Richter schreibt, durch Baseballschläger ersetzt wurde. »Das Gewaltmonopol war auf jeden einzel- nen übergegangen.« Als in einer Szene des Buchs der Erzähler und ein Kumpel einem Typen nicht gerade zimperlich das Butterfly-Messer abnehmen und damit die Reichskriegsflagge von der Bomberjacke trennen, taucht dann doch einmal eine Streife der Volkspolizei auf, »von der inzwischen nicht einmal mehr klar ist, ob die überhaupt noch so heißt«. Der Polizist: »So, Sportsfreunde, was machen wir denn hier?« Die Antwort: »Ihren Job, Genosse Wachtmeister, wir machen Ihren Job.«
Ewig währte es nicht, dieses Jahr der Anarchie. Irgendwann kam der Westen, zunächst in Gestalt »extrabilliger, schäbiger, demütigender« Kunsumcontainer, die in die Stadt geklotzt wurden, dann auch in Gestalt neuer Autoritäten, die das, was da brodelte, bald zu deckeln verstanden. Auch die Frage, »ob zwischen dem einen stupiden System und dem nächsten, vermutlich genauso stupiden System noch etwas anderes möglich sein könnte«, war irgendwann beantwortet. Nein. Beziehungsweise: ja, aber eben nur in diesem Dazwischen. Für den Erzähler – und für große Teile seiner Generation – war es die Zeit, die ihr folgendes Leben prägte, so unterschiedlich die Wege auch waren, die jeder Einzelne einschlagen sollte. In einem Epilog verzeichnet Richter bündig, was aus den Figuren des Buchs geworden ist, als es vorbei war: ein Söldner für Kroatien, ein Selbstmörder, ein Bordellbetreiber, zwei Immobilienmakler ...
Manche sind gestrandet, andere weich gelandet. Aber wann immer man sich wiedertrifft, kommt man irgendwann auf diese Zeit zu sprechen, so wie Veteranen das eben tun. Dann werden die alten Kriegsgeschichten aufgewärmt und man redet davon, was aus diesem und jenem Kämpfer so geworden ist. »Oder von den beiden Lutschern aus Jena, wie S. die nannte, die Nazis geworden waren und einen Haufen Leute erschossen hatten und dann sich selber, die hätten ja zum Beispiel auch so werden können wie wir.«
»Es war zu spüren, dass es später einmal, wie beim 17. Juni, zwei Versionen der Geschichte geben würde, eine von mutigen Bürgern und eine vom neofaschistischen Mob.«
Peter Richter: 89/90. Roman. Luchterhand, 414 S., geb., 19,99 €. Zu bestellen im nd-Shop, Tel.: (030) 2978-1777. Lesung und Gespräch im Rahmen von »Leipzig liest«, 13.3., 19 Uhr, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig.