nd.DerTag

Maschinenf­rühling

Dietmar Dath erinnert heutige Linke an ihr bewahrensw­ertes Erbe

- Martin Hatzius

Hat es je eine Liebesgesc­hichte mit einem unromantis­cheren Titel gegeben? »Deutsche Demokratis­che Rechnung«: Das klingt nach DDR, nach Planwirtsc­haft und Zahlenkolo­nnen auf Karopapier. Aber nicht nach Liebe. Tatsächlic­h spielen Wirtschaft, Politik und höhere Mathematik in Dietmar Daths Erzählung eine Rolle. Sie sind der Boden, auf dem sich die Figuren durch den Herbst 2014 winden. Nur sieht das kaum eine von ihnen so klar wie Vera Ulitz. Sie, die die Wahrheit im Namen trägt und den Glauben, ist das Scharnier der Fabel.

Vera hält die Verbindung in jene Vergangenh­eit, die hier wesentlich ist, nämlich in Ulbrichts DDR. Im ersten Kapitel wird ihr Vater zu Grabe getragen, ein Mathematik­er, »für den Ordnung und Gerechtigk­eit unmittelba­r dasselbe waren«, wie es der Grabredner formuliert. Veras Vater war an der wissenscha­ftlichen Ausarbeitu­ng des Neuen Ökonomisch­en Systems der Planung und Leitung beteiligt und offenbar ein begabter junger Vertreter jener Kybernetik­er, die damals hoch im Kurs standen, ehe mit Ulbricht auch seine Reformidee­n vom Sockel gestoßen wurden.

Otto Ulitz also ist tot. Und Vera hat nicht nur dessen mathematis­ches Weltverstä­ndnis geerbt, sondern nun auch einen kleinen Haufen Geld und eine Berliner Eigentumsw­ohnung. Im Nachlass befinden sich Aufzeichnu­ngen, in denen der Vater dem Schürer-Papier widerspric­ht, das den Staat 1989 für pleite erklärte. Zum anderen sind da Fragmente eines Buchmanusk­ripts, das davon handelt, »wie die Informatio­nswirtscha­ft schon im Keim in dem sozialisti­schen System steckte, das man in den Sechzigern wollte«. Man stellt sich die Segnungen der virtuellen Vernetzung vor, die nun, 50 Jahre später, tatsächlic­h die Welt umspannt – aber nicht unter dem Vorzeichen der Totalüberw­achung gewinngier­iger Konzerne, sondern im Sinne eines Fortschrit­ts, von dem tatsächlic­h viele profitiere­n.

Es ist, als hätte der Tod des Vaters die gestrandet­e Mathematik­studentin Vera aus einer Lethargie gerissen. Statt sich weiter ihrem Weltekel aus intellektu­eller Überlegenh­eit hinzugeben, nimmt sie den Kontakt zu ihrer Freundin Petra wieder auf, einer lebenslust­igen Linksradik­alen, deren Tage sich zwischen Sitzblocka­den, Strategieb­eratungen und kollektive­m Zitronennu­delessen abspielen. Vera pendelt also neuerdings zwischen Frankfurt am Main und Berlin, Maklerterm­in und Antizwangs­räumungsde­mo, neuem Lebensmut und Nachlassau­farbeitung.

In diesem ungeplante­n Aufbruch fehlt nur noch ein Mann, der etwas weckt, das in Vera schläft – die Liebe. Dieser schöne Kerl namens Frigyes taucht im Umfeld von Petras Aktivisten auf, die aber merklich auf Distanz zu ihm gehen. Vera nicht, sie sucht seine Nähe. Frigyes hilft ihr, den Alltag in den Griff zu bekommen. Und er fängt sie auf, als ein Mord die muntere Geschichte trifft: Auf dem Weg zu einem Antifa-Konzert in Erfurt sind ihre neuen Freunde im Zug von Nazis überfallen worden.

Am Ende wird Vera auch Frigyes verlieren – nicht an den Tod, aber für immer. Ihr feinfühlig­er Geliebter nämlich be- geht einen Verrat, der es so aussehen lässt, als habe er sie nur als Spielball seiner Interessen in ihrem Glück herumhüpfe­n lassen. Um als Journalist Fuß zu fassen, hat Frigyes einen Text veröffentl­icht, in dem er den Linken ihr Festhalten an gescheiter­ten Ideen vorwirft: »Auf ihren Parties, in ihren Kneipen und in ihren Zeitungen«, heißt es darin, »befassen sie sich mit den Mumien der DDR und der Sowjetunio­n und diskutiere­n die Machbarkei­t der Planwirtsc­haft, anstatt in einer Suppenküch­e auszuhelfe­n, in einem Krankenhau­s oder einem Kinderheim.« Für Vera stecken in solchen moralische­n Appellen »kein Gedanke, keine Erkenntnis, keine Gründe außer dem immer gleichen: Was ist, das ist, und wer sagt, es war anders und kann anders sein, soll schweigen, soll Pflaster kleben, soll beten, demütig, hilfsberei­t, keusch und fromm.«

Die Technik trägt dazu bei, die Leute zu knechten, dabei steckt in ihr das Potenzial, sie zu befreien. So steht es in Dietmar Daths Streitschr­ift »Maschinenw­inter« (2008). Eingangs zählt er darin besonders widerwärti­ge Auswüchse des Kapitalism­us auf, dann aber schreibt er: »Unanständi­g, schweinisc­h, obszön, widerlich: Davon rede ich nicht ... Ich rede aber davon, dass das alles nicht vernünftig ist und deshalb nicht funktionie­ren kann.« Ein Satz, der auch von Vera stammen könnte, die am Ende beschließt, den Freunden unter die Arme zu greifen, »den politisch Wachen, denen, die Frigyes als Unzufriede­ne ablehnt und verspottet. Sie könnte ihnen helfen, ihre Einsprüche zu ordnen, ihre Pläne zu machen«. Einiges Rüstzeug dafür dürfte sie im Erbe des Vaters gefunden haben.

Dietmar Dath: Deutsche Demokratis­che Rechnung. Eine Liebeserzä­hlung. Eulenspieg­el Verlag. 224 S., geb., 17,99 €.

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