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Vor den Vätern sterben die Söhne

Andé Herzberg: Auf den Spuren seiner Familie blickt er auf einhundert Jahre deutsch-jüdischer Geschichte

- Erik Baron

Er hätte es getan! Isaak ist sich sicher. Er hatte die entschloss­enen Augen seines Vaters Abraham und das Messer in dessen Hand gesehen. Er hätte seinen Sohn geopfert. Aber er ließ ab davon. Wie ein Alp verfolgt Isaak dieses Bild, ein Bild, das seit 2000 Jahren nicht aus dem Gedächtnis der Söhne schwindet, deren Schicksal es ist, vor den Vätern sterben zu sollen. Ein Bild, das bis in die Gegenwart reicht und von Thomas Brasch, Eugen Ruge oder zuletzt von Regina Scheer in Prosaform reproduzie­rt wurde: Vor den Vätern sterben die Söhne.

Die leidvolle Geschichte des letzten Jahrhunder­ts lässt sich nicht ohne dieses Bild aus dem Alten Testament fassen. So hat auch André Herzberg, bekannt als Leadsänger der DDR-Rock- gruppe »Pankow«, in seinem zweiten Roman die eigene jüdische Familienge­schichte mit eben jenem Bild von Abraham und Isaak auf dem Berg Moria gerahmt. Es ist der Gang vom Moria-Berg über Auschwitz ins Heute hinein – ein gewaltiger Bogen, den Herzberg spannt. Aber, um es vorwegzune­hmen, er überspannt ihn keineswegs.

Alles beginnt mit einem Traum, einem Beschneidu­ngstraum, den Jakob Zimmermann, Ich-Erzähler und Alter Ego von André Herzberg, immer wieder träumt: Er sitzt in der Mitte auf einem Sessel, die Familie um ihn herum. Dann kommt der Mohel, der Beschneide­r, und erledigt seine Arbeit. Großvater Heinrich setzt zu einer Rede an, deren Beginn wie ein Motto über Herzbergs Roman stehen könnte: »Unser Blut geht schon lange in deutsche Erde …« Man weiß als Leser noch nicht, ob er sich der Doppeldeut­igkeit dieser Worte bewusst ist. Alles nur ein Traum!? Denn die Familie ist längst auseinande­rgerissen, beschnitte­n wurde Jakob auch nicht. Überhaupt zieht er sich als Ich-Erzähler für die nächsten hundert Seiten zurück.

Herzberg lässt seinen Protagonis­ten durch die Brille des Noch-Nicht-Geborenen die eigene Familienge­schichte in der dritten Person zurückverf­olgen, bis in die Gegenwart hinein. Einhundert Jahre deutsch-jüdischer Geschichte werden lebendig. Für Großvater Heinrich, einst Lederhändl­er, der es zum Unternehme­r geschafft hat, stellten deutscher Patriotism­us und Judentum keinen Widerspruc­h dar. Wie so viele Juden zog auch er für den Kaiser in den Ersten Weltkrieg und glaubte sich mit seinen Verdienste­n auf der sicheren Seite. Ein Irrglaube, wie sich herausstel­lte. Heinrich sah sich immer als pragmatisc­hes Familienob­erhaupt, als Rabbi der Familie, der sie zusammenha­lten und durch alle Zeiten bringen wollte. Doch mit der Machtergre­ifung der Nazis stieb die Familie im Exil auseinande­r, nur Paul, der jüngste Sohn, kehrte nach dem Krieg als britischer Soldat und Kommunist nach Deutschlan­d zurück. Gemeinsam mit seiner Frau Lea wollte er einen neuen Staat nach Stalins Vorbild errichten helfen.

Aus dieser Ehe stammt als jüngster Spross Jakob Zimmermann, der sich nunmehr als IchErzähle­r vehement ins Geschehen einbringt und von seinem Werdegang in der DDR erzählt, seinen Konflikten mit dem Genossen Vater, der als Parteisold­at mehr der Sache als der Familie dient. Wir begleiten ihn durch sein Leben entlang der streng kommunisti­schen Erziehung durch das Elternhaus, zwischen Tabu und Rebellion, zwischen Ängsten und Selbstfind­ung, bis hin zur Erfolgsdro­ge Musik, die ihn in einen Höhenrausc­h führte, später zum Absturz brachte.

Herzberg entwickelt einen ganz eigenen Erzählstil. Nüchtern-lakonisch, doch voller Poesie, zieht er seine (Familien-) Kreise durch die Geschichte, im- mer aus der Sicht der jeweiligen Figuren. Selbst das dominante Familienob­erhaupt Heinrich erfährt auf diese Weise Wärme, weil Herzberg diese nach außen hin eher unsympathi­sche Figur aus sich selbst heraus entwickelt und sie nicht aus der Distanz verurteilt. Ein wenig bricht dieser sehr dichte Erzählstil mit der Einführung der Jakob-Figur als Ich-Erzähler ein. Hier verfällt Herzberg hin und wieder in jenen episodenha­ften Plauderton, der sein erstes autobiogra­phisches Buch »Mosaik« geprägt hat. Mehr noch: Ganze Passagen aus »Mosaik« finden sich im aktuellen Roman wieder.

Doch mit dem Ausbruch von Jakobs Identitäts­krise nach dem Mauerfall und der beginnende­n Reflexion über sein verdrängte­s Judentum verdichtet sich der Er- zählstil wieder. Jakob gewinnt ein Stück Identität zurück. Und hier taucht auch wieder die biblische Geschichte von Abraham und Isaak auf, diesmal nach der Eskalation der Beziehung zwischen Vater Paul und Sohn Jakob. Abraham hätte seinen Sohn Isaak geopfert, ohne Zögern, da ist sich Isaak sicher, wenn, ja wenn …

Die Frage nach dem Warum ist auch der Antrieb in Jakobs Handeln, ist der Schlüssel zu Herzbergs Roman. Die Väter wollten sich eine Welt nach ihrem Bilde schaffen und ließen Fragen und Zweifel nicht zu. So versandete die Kommunikat­ion zwischen den Generation­en. Weil die Umarmung der Väter oft zum Würgegriff wird, sterben so viele Söhne vor ihren Vätern.

André Herzberg: Alle Nähe fern. Ullstein. 272 S., geb., 21 €.

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