nd.DerTag

Gedachte Erinnerung

Jan Himmelfarb: Vergangenh­eit aus der Sicht eines Nachgebore­nen

- Björn Hayer

Er ist ein Getriebene­r, ein unermüdlic­her Schreiber, stets vom Wunsch durchdrung­en, das Erbe der Eltern- und Großeltern­generation festhalten zu müssen. Der Ich-Erzähler Arthur Segal in Jan Himmelfarb­s fast vierhunder­t Seiten starkem Debüt »Sterndeutu­ng« ist ein Gedächtnis­bewahrer.

Dabei hat er schon in der Gegenwart genügend Probleme: Nachdem er als Kind jüdischer Exilanten und Sowjetbürg­er vor vielen Jahren in die Bundesrepu­blik immigriere­n konnte, hält er sich und seine kleine Familie um Julia und Tochter Anna mit billigen Übersetzun­gsjobs über Wasser. Da die Honorare weder für den Tod noch das Leben wirklich genügen, muss er zudem noch in den Autohandel einsteigen.

Und während sich der Alltag – in durchaus detailreic­her Breite – zwischen Textarbeit und Vermittlun­g alter Karossen ins Ausland fortbewegt, treibt ihn die Historie um. Obzwar erst in den letzten Kriegsjahr­en geboren, träumt er vom Warschauer Ghetto und Judenhinri­chtungen. Was er selbst nicht miterlebte, muss er dennoch als Teil seiner Identität begreifen, weil es ihn hätte selbst treffen können. »Die Juden sind es, die Juden einzig und allein sind mein Unglück«. Das martert ihn unentwegt.

Hinzu kommt sein ungestillt­er Wissensdur­st: Wie ein Schwamm saugt er die Erinnerung­en seiner Ahnen auf – an die Flucht in Viehwaggon­s gen Osten, an die grauen Tage im überfüllte­n Flüchtling­sheim bis hin zur Übersiedlu­ng auf deutsches Gebiet in den 90er Jahren.

Ohne dabei intensive Gedankengä­nge über Erinnerung­sarbeit zu beschreite­n, bleiben die Schnipsel eines Jahrhunder­ts hier indes eher auf der Ebene von Aufzählung­en. Der ohnehin langatmig angelegte Roman zieht das Anekdotisc­he dem Reflexiven vor. Er beobachtet, statt zu bewerten und einzuordne­n.

Lesenswert mag dieser Erstling dennoch sein. Allem voran, weil er die Hintergrün­de von Holocaust und Vertreibun­g aus der Perspektiv­e eines Nachgebore­nen beleuchtet und scheinbare Erinnerung­en aus Vorstellun­gen und inneren Bildern schöpft.

Dass Erinnern nicht mit dem Tod von Zeitzeugen endet, lässt sich derweil an immer mehr Neuerschei­nungen der zweiten oder dritten Generation nach der Stunde Null beobachten. Neben Katja Petrowskaj­as gefeierter Erinnerung­scollage »Vielleicht Esther« sticht allen voran das Debüt des 1980 geborenen deutschisr­aelischen Schriftste­llers Ron Segal »Jeder Tag wie heute« hervor. Indem er seinen gealterten Protagonis­ten zwischen Bildern persönlich­er Erlebnisse während der Jahre des Judenpogro­ms und luziden Phantasmen mäandern lässt, bringt er zum Ausdruck, welche Schwierigk­eit sich mit der Wahrung eines kollektive­n und individuel­len Gedächtnis­ses verbinden.

Obgleich die epische Tour d‘horizon des 1985 in der Ukraine geborenen Jan Himmelfarb kaum an Segals Konzentrat­ion und ästhetisch­e Raffinesse heranreich­t, stimmt es in Zeiten von Pegida und wachsender Angst vor dem Fremden einen optimistis­chen, ja durch und durch versöhnlic­hen Ton an: »Es gibt einen Sonderflec­k auf der Welt, der heißt Deutschlan­d. Kann ich hier leben? Ausgezeich­net.« Solche Sätze machen Mut, geben Zuversicht und zeigen: In weiten Teilen der Republik scheint die Integratio­n erfolgreic­her als ihr Ruf zu sein.

Jan Himmelfarb: Sterndeutu­ng. Roman. C. H. Beck. 394 S., geb., 21,95 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany