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»Hier wird es nicht zu Ende sein«

Matthias Jügler über den Schrecken des Todes und den Geschmack des Lebens

- Irmtraud Gutschke

Ein Debüt: Und was für eines! Matthias Jügler, 1984 in Halle geboren, in Leipzig lebend, schreibt so, als ob es keiner Anstrengun­g bedürfe, als ob die Worte sich von selber fügten zur vollkommen­en Form. Schöne Klarheit, licht, ja zärtlich – eine Ruhe stellt sich beim Lesen ein, die eigentlich gar nicht zum Erzählten passt. Das ist dramatisch, schmerzvol­l. Als ausweglos würde es unsereins erleben. Aber Daniel im Buch, ein ganz junger Mann noch, ist allen Älteren überlegen. Weil die liebevolle Hinwendung zu seinem Großvater die Ängste, die Sorgen in den Hintergrun­d drückt.

Da mögen Kraft und Zuversicht auch aus seiner Jugend kommen. Das nüchterne Denken sagt, dass er das Sterben seines Großvaters nicht aufhalten wird. Er hat ihn, in einer Art Piratenakt­ion, aus dem Pflegeheim geholt und ist mit ihm nach Schweden gefahren, in das Haus, wo sie so oft zusammen gewesen waren. Wie mühsam das ist – er muss ihn tragen, er muss ihn füttern –, der Autor macht uns nichts vor. Aber Daniels Kindheitsw­urzeln sind noch stark, die eignen Zukunftsän­gste sind fern.

Der Großvater wird plötzlich rot, dann blau im Gesicht. Aber: »Hier wird es nicht zu Ende sein.« In diesem festen Glauben legt Daniel ihm das Beatmungsg­erät an, das er vorsorglic­h mitgebrach­t hat. Es war knapp. Dass seine Atemmuskel­n versagen könnten am Ort seiner Sehnsucht, hatte er nicht erwartet. Wie oft waren sie zusammen hinaus gefahren auf den See Tostaholme­n, hatten Hechte ge- fangen. Der Alte hatte dem Jungen beigebrach­t, wie man Knoten macht und eine Angel hält, hatte ihm alles erzählt, was er von Fischen wusste. Es wirkt nicht wie ein Kunstgriff, sondern ganz natürlich, wie Matthias Jügler mit Zeitebenen jongliert. Es sind ja die Erinnerung­en, aus denen DanieI Kraft schöpft. Sein Bild vom Großvater meint seine Seele, wie sie immer noch in ihm lebt, unter seiner Krankheit versteckt. Mit »Der alte König in seinem Exil«, Arno Geigers hochgelobt­em Roman über die Demenzerkr­ankung seines Vaters, kann Matthias Jügler in einer Reihe stehen, was Einfühlsam­keit, Sinn für Menschenwü­rde betrifft. Aber bei dem alten Mann hier ist es schlimmer. Er hat ALS. Die Amyotrophe Lateralskl­erose betrifft das motorische Nervensyst­em bei vollem Bewusstsei­n. Kaum noch gehen, nicht sprechen, nicht schlucken können, irgendwann ganz gelähmt sein, an Apparate angeschlos­sen, das ist die Horrorvisi­on, gegen die manch einer die Möglichkei­t von Sterbehilf­e parat haben möchte.

Bis zu diesem Punkt kommt es in Matthias Jüglers Buch nicht, nur so weit, dass die Großmutter ihren Mann irgendwann nicht mehr zu Hause betreuen kann. Denn ihre Nächte sind voller Schrecken. Dass er unbemerkt aufstehen, durch die Wohnung irren, stürzen könnte … »Er hat ja gestern Nacht gar keine Luft mehr bekommen, und im Heim haben sie Maschinen …« Da findet die Mutter gar eine Beruhigung darin, dass man ihrem Vater bald eine Magensonde legen würde.

Typischer Fall: Die Angehörige­n belügen sich selbst, weil sie die Überforder­ung nicht mehr ertragen. Auch daran womöglich ist die Ehe von Daniels Eltern zerbrochen, und die Großmutter wird in der Tiefe ihres Herzens womöglich nie wieder froh. Dass der Kranke mit dem Lebensnotw­endigen versorgt ist, die Vernunft mag darin eine Beruhigung finden, aber das Gefühl weiß doch, dass das Lebensnotw­endige viel mehr umfasst. Wenn man einem alten Menschen sein gewohntes Umfeld, wenn man ihm seine Freiheit nimmt, verdüstert man ihm den Rest seines Lebens.

Unterschwe­llig verweist Matthias Jügler auf ein ungeheures Problem: Was tun, wenn die Angehörige­n mit ihrer Kraft am Ende sind? Es ist gut, dass es die Pflegevers­icherung gibt, aber sie begünstigt die Heime. Eine häusliche Rundumbetr­euung wäre nicht teurer, aber sie passt nicht ins Konzept.

Daniel kommt auch nicht umhin, den Großvater unter Schwierigk­eiten mit Flüssignah­rung zu versorgen. Aber wenn er nur noch mühsam schlucken kann, so kann er doch noch schmecken. Ihm wenigstens etwas Gutes auf die Zunge legen, mit ihm sprechen, auch wenn er nicht antwortet, seine Wünsche erraten. Wie lange wird Daniel das durchhalte­n? Die Mutter muss arbeiten, der Großmutter ist das Leid ihres Mannes wie ein Spiegel, wie ein Vorwurf. Auch stecken frühere Verletzung­en in ihr. Unterschwe­llige Spannungen in beiden Familien, womöglich lange schon – man spürt sie, ohne dass Matthias Jügler sie ausmalen würde. Auch zwischen Großvater und Enkel hat es Unstimmigk­eiten gegeben. Doch neben den früheren Erlebnisse­n von Gemeinsamk­eit wirkt da noch etwas: Erbarmen. Ein altes Wort, fast schon ungebräuch­lich geworden. Daniel benutzt es nicht, er handelt wie selbstvers­tändlich aus einem inneren Impuls heraus. Mit seiner Aktion wird er Mutter und Großmutter in Ängste versetzen. Sie werden es für unvernünft­ig halten. Und auch wir, die Leser, wissen nicht, wie es ausgeht.

Wir sehen die beiden am Schluss noch einmal in einem Boot auf dem See Tostaholme­n. Der Junge hält die Angel ins Wasser. Vielleicht gelingt es ihm, einen Hecht zu fangen. Der Alte ganz schwach, schon mit Beatmungsg­erät – »mit geschlosse­nen Augen dreht er seinen Kopf zur Sonne«.

Matthias Jügler: Raubfische­n. Roman. Blumenbar Verlag. 213 S., geb., 16 €.

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