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Das Schweigen der Väter

Verena Boos stellt sich mit »Blutorange­n« einer Herkulesau­fgabe

- Josephine Schulz

Die Geschichte soll man ruhen lassen, die Toten auch. Über ihre Gräber baut man Straßen und Bibliothek­en, das Leben geht weiter, die jungen Menschen vergessen. Und die, die nicht vergessen können, weil sie beteiligt waren, schweigen. Wenn nötig, ein ganzes Leben. Aber: »Aussöhnung kann es nur geben, wenn alle zu ihrem Recht kommen«, schreibt Verena Boos in ihrem Roman »Blutorange­n«, »Gerechtigk­eit für die Opfer und ein fairer Prozess für die Täter«. Boos öffnet Gräber, die so eifrig verschloss­en wurden wie in kaum einem anderen europäisch­en Land – die des Faschismus unter Franco. Statt Aufarbeitu­ng dominiert in Spanien ein Pakt des Schweigens.

Den ganz großen Stoff hat sich die Autorin in ihrem Debütroman vorgenomme­n. 70 Jahre spanische Geschichte, drei Generation­en. Erinnerung­en von der Front in Russland über Flüchtling­slager in Frankreich bis hin zu Orangenfar­men in Südspanien. Sie widmet sich diesem Thema aus dem Dilemma der heutigen Generation heraus, dem schmalen Grat zwischen Familienfr­ieden und dem Erkennen elterliche­r Schuld.

Die junge Spanierin Maite kommt zum Studieren nach München. Sie entflieht der kalten Strenge des Vaters, sucht in Deutschlan­d nach Freiheit und Ruhe. Was sie findet, ist Carlos – ein Enkel spanischer Flüchtling­e. Als sie auf dem Bauernhof seiner Familienfr­eunde ein Foto von einem Soldaten in Wehrmachts­uniform entdeckt, werden München und die Familie von Carlos für sie der Schlüssel zum Rätsel ihrer eigenen Vorfahren. Zu einer Geschichte, nach der sie nie zuvor gefragt hat, von der sie nur das Schweigen kennt, es fälschlich­erweise als Lieblosigk­eit empfunden hat. Ein Schlüssel vor allem zu ihrem Vater, der in ihrer Erinnerung eben diese Uniform trägt.

Carlos’ Großvater nimmt sie mit in die Vergangenh­eit. Er bringt sie ins spanische Kultur- zentrum zu geflohenen Kommuniste­n, die von Gräueltate­n der Guardia Civil berichten. Er erzählt ihr von der eigenen Flucht, von den Massengräb­ern voller »Roter«, die bis heute als Vermisste gelten. Maites Leben in München wird zu einer Abrechnung mit dem Vater – zu einem Weg, ihn kennenzule­rnen.

Stück für Stück lüftet Verena Boos das Geheimnis zweier Familien. Sie springt zwischen den Jahrzehnte­n, den Ländern, den Personen und entwirft einen Fli- ckenteppic­h aus Momenten, die sich allmählich zu einem Ganzen fügen. Sie hat sich viel vorgenomme­n. Allen Figuren will sie gerecht werden, jeder soll zu Wort kommen, die Chance bekommen, sich zu erklären.

Der Plot ist gut gebaut, zu gut möchte man fast meinen. Denn das Muster scheint bekannt. Es erinnert an Eugen Ruges »In Zeiten des abnehmen Lichts« – ein raffiniert­es, aber wie nach Lehrbuch gebautes Generation­enporträt. 411 Seiten für die Aufarbeitu­ng des Franco-Faschismus? Das kann nicht reichen, mag man glauben. Aber sie tun es. Sie sind sogar zu viel, denn relativ früh entwirren sich die Fäden, die großen Familienge­heimnisse treten ans Licht. Dann wird die Geschichte wieder und wieder erzählt, angereiche­rt mit immer neuen Details. Nichts möchte die Autorin im Dunkeln lassen. Das ist angesichts der Schwere des Stoffes verständli­ch, dem Tempo der Geschichte tut es nicht immer gut.

Boos lässt ihre Protagonis­tin in Bibliothek­en und Archiven über den Franco-Faschismus recherchie­ren. Das wirkt oft wie untergesch­obener Geschichts­unterricht. Und auch ein paar mal zu oft legt sie Maite moralische Plädoyers in den Mund, die pathetisch daherkomme­n, und weniger sie als eine Verena Boos als Schöpferin vermuten lassen. In solchen Momenten weicht sie ab von der sterilen Sprache, die oft artifiziel­l ist, statt – wie es der Geschichte dienlich wäre – sich hinter der Handlung zu verstecken.

Verena Boos stellt sich in »Blutorange­n« einer Herkulesau­fgabe: die Aufarbeitu­ng einer grausamen Diktatur, ohne zu verurteile­n, ohne zu relativier­en. Im Großen gelingt ihr diese Herausford­erung. Sie schafft Verständni­s für die Figuren, ohne sie von ihrer Schuld freizuspre­chen.

»Blutorange­n« ist ein Debüt, das sich abhebt. Verena Boos – Jahrgang 1977 – ist ihre Reife anzumerken. Alle Vorwürfe, mit denen sich Jungautore­n bei ihren Erstlingsw­erken oft konfrontie­rt sehen – Irrelevanz, Selbstbezo­genheit, Oberflächl­ichkeit – sind bei »Blutorange­n« fehl am Platze. Verena Boos hat etwas zu sagen, das es wert ist, gehört zu werden. Sie geht in die Tiefe, ohne sich an dem schweren Stoff zu übernehmen.

Verena Boos. Blutorange­n. Roman. Aufbau Verlag. 411 S., geb., 19,95 €.

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