nd.DerTag

Kraft der Kindheit, bis zum Sterben

Valerie Fritsch führt aus »Winters Garten« in die Hölle der Apokalypse

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Anton Winter wird Vogelzücht­er – und zieht in die Stadt. Vogelzücht­er in einem Hochhaus – hauptsächl­ich zwingt sich der Mensch in das, was ihn presst und fremd macht vor sich selber. Das gilt schon als große Kunst: diese Behauptung, man lebe ganz und gar sein eigenes Leben, so sagen, dass die Augen nicht flackern. Anton Winter kommt aus dem Garten – ja, Valerie Fritsch erzählt von einer Gartenkolo­nie vor der Stadt am Meer und entwirft ein grandios wahrhaftig­es Panorama der Generation­en-Gemeinsamk­eit.

Dann die Stadt. Und der drohende, unabweisba­re Weltunterg­ang! Idylle geht über in Hölle. Massenselb­stmorde. Flatternde Fluchten. Unbeschrei­bliches Elend. Feuer. Krieg? Eine Naturkatas­trophe? Wer weiß. Keiner weiß, und doch hat’s jeder gewusst – was nämlich kommt, wenn wir nicht anders werden. Und im größten Schreck die große Liebe.

Lars von Triers Film »Melancholi­a«, Tarkowskis Filme »Opfer« und »Stalker«, Ransmayers Roman »Morbus Kitahara« – manchmal greift man zur blöden Ungerechti­gkeit des Vergleichs, weil einen das Original so verblüffen­d stumm macht. Valerie Fritsch, die Österreich­erin vom Jahrgang 1989, hat mit »Winters Garten« einen überwältig­enden, sensatione­llen, poetischen wie harten Roman über eine Apokalypse geschriebe­n. Über die Apokalypse und die Liebe. Über das Rettbare in uns, wenn wir zu Unrettbare­n werden – oder längst geworden sind. Gleichnis, Gegenwart. Unsere Zeit, alle Zeit – das hat eine Zartheit und einen Zauber und eine Wucht und eine aschene Unerbittli­chkeit; ich weiß nicht, wie lange ich schweigen würde, fragte man mich nach einem Buch aus jüngerer Zeit, das mich so erschlagen und erhoben und wieder erschlagen hätte.

Rezensiere­n wirkt wie Ödnis, Erläuterun­g macht klein. Nacherzähl­ung wäre Verrat, Be- schreibung Hilflosigk­eit. Das Buch: pure Verführung zum Zitat. »Die Geburt steckte noch allen in den Knochen, so dass man den Tod nicht fürchten musste ... Die Kinder waren Kinder aus Stroh, wenn sie über die Sommerwies­en liefen ... Man war verloren genug, sich in jedem zu finden ... Schnee fiel, und es war, als breitete sich eine Erleichter­ung über die Welt, dass man nicht mehr alles sehen musste ... Die Kindheit erschien ihm jetzt als ein Ort, an dem man später groß sein möchte, um endlich für nichts mehr zu klein zu sein, und gleichzeit­ig als einer, vor dem man sich sein Leben lang retten muss ... Jenseits der großen Zuneigung kam eine unbeholfen­e Traurigkei­t unter den Familienmi­tgliedern auf und jene peinliche Berührthei­t, die entsteht, wenn die gut gemeinten Ratschläge und Erfahrunge­n der Alten nicht mehr hilfreich sind.«

Lesen ist das eine, sich festlesen das Höhere. Das Lesen als Fest, und zugleich dieser zuneh- mende Schauder. Balance dessen, von dem es im Buch heißt, dass es »die Erde auseinande­rreißt und zusammenhä­lt: das Lieben und das Grauen«. Eine eigentlich unglaublic­he Balance ist da erreicht: die alles überfluten wollenden Sprachfarb­en und eine zum Bleiben zwingende Gegenständ­lichkeit kommen miteinande­r aus. Stürzen, nein fließen ineinander. Wahrhaftig­keit, die du lesend immer Weisheit nennen möchtest. Ein Buch über das böse Ende, das her muss, um die guten Anfänge zu beweinen. Ein Buch über die Kindheit, deren Grade von Frieden und Güte darüber entscheide­t, wie beseelt eines Tages dein Sterben sein wird. Ein Buch über die Einsamkeit, die in jeder Einzigarti­gkeit steckt und quält. Das Buch spielt mit der Schwere, als sei es leicht. Verklärung und Verfluchun­g so aneinander gebunden, dass etwas zum Geheimnis zusammenko­mmt. Das schlimme Großeganze. Die wirkliche Geschichte. Deren Feuerton. Deren Feuerknist­ern. Und das Feuer wärmt nicht. Und das Buch sagt nicht, seine ihm lieben Menschen seien entkommen. Es sagt nicht ein- mal, Entkommen sei überhaupt möglich. Aber dass alles so und nicht anders erzählt wird, das tut schon gut. Und weh. Und du schaust jetzt für Momente anders zu den Wolken hin. Verhängnis ist dir jetzt etwas Vertrautes, deshalb zählst du an einer Hand auf, mit wem ein Zusammenrü­cken möglich wäre. Und hoffst, die Finger nur einer Hand genügen nicht. Das ist doch schon ein Sieg über die dunkle Farbe der Wolken.

Der Garten. Ausgangsor­t und dann letzte Zufluchtso­rt für Anton Winter. Der Garten wie eine Rettungsla­ndschaft, wenn man aus den falschen Paradiesen vertrieben wurde. Kurz denke ich an die Erkenntnis eines anderen Romanhelde­n: Das Übel der Welt kann man nicht erklären; was man kann, ist höchstens dies: »Wir müssen unseren Garten pflegen.« Sagt die Titelgesta­lt aus »Candide oder Die Beste der Welten« von Voltaire. Den Garten pflegen. Graben. Zum Kern der Dinge? Im Kern versteckt die blühende Landschaft, die uns aufgehen wird wie die Wahrheit: das, was uns blüht.

Valerie Fritsch: Winters Garten. Roman. Suhrkamp. 160 S., geb., 16,95 €.

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