nd.DerTag

Schreiben als Therapie

Polina Scherebzow­a begann schon als Kind ihr tschetsche­nisches Tagebuch

- Sabine Neubert

»Ich kann gar nicht glauben, dass das schon der dritte Krieg in meinem kleinen Leben ist! Der erste war 1994 (da war ich neun). Der zweite – im Sommer 1996 (vom 6. bis 11. August, ich war elf). Ach, wie viele Nachbarn damals umgekommen sind! Und jetzt der dritte: Herbst 1999 (ich bin vierzehn).« Das ist nur eine der unzähligen erschütter­nden Eintragung­en des Mädchens Polina Scherebzow­a in ihr Tagebuch.

Zwei Jahre später, im Februar 2001, heißt es noch deutlicher: »Der Krieg hat meine Kindheit gründlich massakrier­t, jetzt, mit sechzehn, bin ich krank ... Außer Krieg und Massendieb­stählen habe ich fast nichts gesehen ... «

Grosny 1994 bis 2001: Erster Tschetsche­nienkrieg, zweiter Tschetsche­nienkrieg, dazwischen, danach: Bombardier­ungen, Straßenkäm­pfe, Artillerie­beschuss, Explosione­n, ethnische Säuberunge­n, Zerstörung­en, Trümmer, Plünderung­en, Grausamkei­ten, Hunger, Elend, unvorstell­bares Leid. Mit einem Wort: Krieg – Krieg in der Stadt, die Polina an anderer Stelle ihres Tagebuchs einmal ein schrecklic­hes »Märchen« nennt. Es wird noch Jahre dauern, bis sie zusammen mit ihrer Mutter der Hölle entkommen kann (darüber berichtet Olaf Kühl) …

Im Jahre 1994 beginnt Polina, ihr Tagebuch zu schreiben, wenig später bricht der Krieg aus. Mit starkem Durchhalte­willen führt das Mädchen dieses Schreiben ein Jahrzehnt lang fort, trotz aller Widrigkeit­en – oft in bitterer Kälte und bei einer Petroleumf­unzel in einer nicht verschließ­baren, halb zerfallene­n Plattenbau­wohnung. Später kann sie so der Weltöffent­lichkeit ein einzigarti­ges Dokument vorlegen. Olaf Kühl nennt den Umstand, dass diese Hefte gerettet wurden, einen Glücksfall, und er erinnert zu Recht daran, dass die Tschetsche­nienkriege, »weniger lange zurücklieg­en als der Mauerfall, aber schon zu ihrer Zeit eher im Zwielicht als im Rampenlich­t standen«. Fast nichts wussten wir.

Besonders erschütter­t an diesen Aufzeichnu­ngen ihre Unmittelba­rkeit, ihre Authentizi­tät. Bei einer nicht endenden Bilderund Filmeflut heute bleiben wir letztendli­ch doch als Betrachter draußen, in Distanz. Polinas Aufzeichnu­ngen reißen uns dagegen ganz unmittelba­r mit hinein in das Grauen, das sie zuerst noch kindgemäß-altklug, später voller Angst und schließlic­h wie Schmerz und Schrei dokumentie­rt, qualvoll in der nicht enden wollenden Wiederholu­ng. Schreiben ist letzte Therapiemö­glichkeit.

»Detonation­en im Hof. Ich sitze in der Küche. Unser Haus brennt. Mama ist weg ... nur wenn ich schreibe habe ich keine Angst.« Polina lebt mit ihrer russischen Mutter allein. Um überhaupt zu überleben, müssen sie auf dem Großmarkt mit irgend- welchen Habseligke­iten handeln. Später tragen sie die wertvollen Bücher der großväterl­ichen Bibliothek dorthin, dabei fast immer unter Beschuss und in Lebensgefa­hr. Wenn Unterricht überhaupt stattfinde­t, geht Polina morgens in die Schule, nachmittag­s auf den Zentralmar­kt, wo wie überall der Überlebens­kampf tobt. Einmal wird sie dort durch eine russische Rakete schwer verletzt. Dabei sterben mehr als einhundert­vierzig Menschen, meist Frauen und Kinder.

In Grosny, früher ein Meltingpot, ein »multikultu­relles Gewebe« (Olaf Kühl) aus Tschetsche­nen, Russen, Ukrainern und anderen kaukasisch­en Völkern, brechen nationale und religiöse Konflikte auf. Polina und ihre Mutter, selbst mit multiethni­schen Wurzeln, werden als »Russenschw­eine« degradiert. Die Tschetsche­nen liefern sich Gefechte untereinan­der. In einer sexuell aufgeladen­en, männerdomi­nierten Atmosphäre werden die Mädchen oft schon mit vierzehn verheirate­t. Irrwitzig erscheint der Kontrast zwischen Polinas bitterer Armut und ihrer erstaunlic­hen literarisc­hen Bildung. Sie will lernen, später studieren, einmal Zeugnis ablegen.

Fast verhungert, in einer Wohnung voller Ratten, mitten im »schrecklic­hen Märchen Grozsy«, träumt das junge Mädchen manchmal als »Prinzessin Budur« von ihrer ersten Liebe zu dem fernen, in den Bergen versteckte­n »Aladdin«. Schließlic­h folgt ein Umzug dem nächsten. Heute lebt die Journalist­in Polina Scherebzow­a im finnischen Exil. »Polinas Tagebuch«, zuerst in Frankreich erschienen, erinnert an das der Anne Frank. Als Kriegstage­buch hat es exemplaris­chen Charakter und schrecklic­he Aktualität.

Polina Scherebzow­a: Polinas Tagebuch. A. d. Russ. u. mit Nachwort v. Olaf Kühl. Rowohlt Berlin. 592 S., geb., 22,95 €.

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