Angst zwischen den Zeilen
Beatriz Bracher: Erinnerung an die Militärdiktatur in Brasilien
»Não falei«, ich habe nichts gesagt, ist der Originaltitel dieses Buches. Ein Satz, der uns Deutschen in den Ohren klingt. Doch hier geht es nicht darum, keine Stimme erhoben zu haben gegen das Unrecht, sondern im Gegenteil, unter der Folter geschwiegen, die Genossen nicht denunziert, nicht ausgeliefert zu haben. Doch genau dieser Verdächtigung sieht sich der Protagonist dieses Buches ausgesetzt – mit dem beschwichtigenden Zusatz: »Nicht alle halten stand«; nicht jeder kann ein Held sein.
Es geht um Brasilien, um die Militärdiktatur. Dreißig Jahre nach deren Ende, 35 Jahre nach der Amnestie (für Täter und Opfer) beginnt langsam die Aufarbeitung.
Gustavo Ferreira soll ein Interview geben, als Zeitzeuge. »Sie haben gesagt, ich hätte alles gesagt; und Armando ist gestorben. Zwei Tage nach seinem Tod wurde ich freigelassen und durfte weiter als Schuldirektor arbeiten.« Die Perfidie dieser Aussage seiner Folterer verfolgt ihn ein Leben lang. War er schuld am Tod des Genossen, des Freundes, des Bruders seiner Frau, schließlich an ihrem Tod im Exil? Er hatte doch gar nichts gewusst, war nicht im Untergrund, war auf die Folter nicht vorbereitet, besaß keinerlei brisante Informationen, die er hätte weitergeben können und doch … Erinnerung kann »ein schlimmeres Gefängnis sein ..., als das, in dem du gewesen bist«, schreibt Michel Laub in »Tagebuch eines Sturzes«, und Gustavo Ferreira tut alles, um sich vor der Antwort zu drücken. Auch die Beschwichtigung quält ihn. Warum war er kein Held? Und: »Wir existierten nur gemeinsam mit dem Feind. Er war ein Teil von uns.«
Beatriz Bracher, die bereits in ihrem 2013 auf Deutsch erschienener Roman »Antonio« eine komplexe Familiengeschichte von den Rändern aus erzählt, erweist sich auch hier als Meisterin der dramatischen Umschweife. In dem Versuch, nicht zu reden, verstrickt sich Gustavo Ferreira, der nach dem traumatischen Ereignis »normal« weiterlebte, mit dem Regierungswechsel sogar fast Karriere gemacht hätte, nun pensioniert ist, in ein Puzzle aus Kindheitserinnerungen, Notizen, Textfragmenten und Gedankenblitzen, über dem stets das Trauma der Schuld schwebt, eine Schuld, die nicht einmal seine eigene ist, an einem Verbrechen, das auch ihn hätte treffen können, wäre er nur mehr Held oder Kämpfer gewesen.
So aber ist seine chaotische Rückschau, mit der die Autorin uns gnadenlos einkreist, ein er- barmungslos dahinstrudelnder Fluss der Verluste: »Eliana war in Paris, unsere kleine Tochter bei meiner Mutter … Für mich wurde keine Ausreise organisiert, nirgendwohin. Eliana starb.« Einfache Sätze, hinter denen sich Katastrophen verbergen, das Private, das auf entsetzliche Weise politisch ist. Immer.
»Ligia sagt, jetzt ist es anders, jetzt sind wir an der Macht. Aber wer, mein Kind?« In Brasilien regiert die Arbeiterpartei, es gibt eine Wahrheitskommission, deren Abschlussbericht bilanziert: Etliche Folterzentren gab es, Tausende wurden inhaftiert und gefoltert, zahllose, zu einem Großteil immer noch nicht identifizierte Personen »verschwanden«. Wem hilft diese Bilanz einer euphemistisch »bleiern« genannten Zeit, was sagt sie, wenn die Qual eine andere ist.
Es gibt keine Folterszenen im Roman, keine Schreie, keine ausgerissenen Fingernägel, keine Elektroschocks. Zumindest werden sie nicht geschildert. Was es nicht einfacher macht. Über dem ganzen Roman schwebt ein Schmerz, eine Verzweiflung, auch Angst, die nur zwischen den Zeilen zu beschreiben ist. Der Bogen, den Beatriz Bracher in diesem packenden, vielstimmigen Monolog schlägt, ist komplex und verwinkelt, mäandernd – mitreißend in seiner quälenden Auseinandersetzung mit dem Unsagbaren.
Wobei Michele Bernstein angeblich auch in Sportzeitschriften Horoskope für Rennpferde schrieb, um die Kriegskasse der Situationisten zu füllen. »Alle Pferde des Königs« ist auch ein Roman, der das soziale Hintergrundrauschen der Pariser Bohème in den frühen 60ern illustriert. Beatriz Bracher: Die Verdächtigung. Roman. A. d. Portug. v. Maria Hummitzsch. Assoziation A. 169 S., geb., 18 €.