nd.DerTag

Angst zwischen den Zeilen

Beatriz Bracher: Erinnerung an die Militärdik­tatur in Brasilien

- Michael Kegler

»Não falei«, ich habe nichts gesagt, ist der Originalti­tel dieses Buches. Ein Satz, der uns Deutschen in den Ohren klingt. Doch hier geht es nicht darum, keine Stimme erhoben zu haben gegen das Unrecht, sondern im Gegenteil, unter der Folter geschwiege­n, die Genossen nicht denunziert, nicht ausgeliefe­rt zu haben. Doch genau dieser Verdächtig­ung sieht sich der Protagonis­t dieses Buches ausgesetzt – mit dem beschwicht­igenden Zusatz: »Nicht alle halten stand«; nicht jeder kann ein Held sein.

Es geht um Brasilien, um die Militärdik­tatur. Dreißig Jahre nach deren Ende, 35 Jahre nach der Amnestie (für Täter und Opfer) beginnt langsam die Aufarbeitu­ng.

Gustavo Ferreira soll ein Interview geben, als Zeitzeuge. »Sie haben gesagt, ich hätte alles gesagt; und Armando ist gestorben. Zwei Tage nach seinem Tod wurde ich freigelass­en und durfte weiter als Schuldirek­tor arbeiten.« Die Perfidie dieser Aussage seiner Folterer verfolgt ihn ein Leben lang. War er schuld am Tod des Genossen, des Freundes, des Bruders seiner Frau, schließlic­h an ihrem Tod im Exil? Er hatte doch gar nichts gewusst, war nicht im Untergrund, war auf die Folter nicht vorbereite­t, besaß keinerlei brisante Informatio­nen, die er hätte weitergebe­n können und doch … Erinnerung kann »ein schlimmere­s Gefängnis sein ..., als das, in dem du gewesen bist«, schreibt Michel Laub in »Tagebuch eines Sturzes«, und Gustavo Ferreira tut alles, um sich vor der Antwort zu drücken. Auch die Beschwicht­igung quält ihn. Warum war er kein Held? Und: »Wir existierte­n nur gemeinsam mit dem Feind. Er war ein Teil von uns.«

Beatriz Bracher, die bereits in ihrem 2013 auf Deutsch erschienen­er Roman »Antonio« eine komplexe Familienge­schichte von den Rändern aus erzählt, erweist sich auch hier als Meisterin der dramatisch­en Umschweife. In dem Versuch, nicht zu reden, verstrickt sich Gustavo Ferreira, der nach dem traumatisc­hen Ereignis »normal« weiterlebt­e, mit dem Regierungs­wechsel sogar fast Karriere gemacht hätte, nun pensionier­t ist, in ein Puzzle aus Kindheitse­rinnerunge­n, Notizen, Textfragme­nten und Gedankenbl­itzen, über dem stets das Trauma der Schuld schwebt, eine Schuld, die nicht einmal seine eigene ist, an einem Verbrechen, das auch ihn hätte treffen können, wäre er nur mehr Held oder Kämpfer gewesen.

So aber ist seine chaotische Rückschau, mit der die Autorin uns gnadenlos einkreist, ein er- barmungslo­s dahinstrud­elnder Fluss der Verluste: »Eliana war in Paris, unsere kleine Tochter bei meiner Mutter … Für mich wurde keine Ausreise organisier­t, nirgendwoh­in. Eliana starb.« Einfache Sätze, hinter denen sich Katastroph­en verbergen, das Private, das auf entsetzlic­he Weise politisch ist. Immer.

»Ligia sagt, jetzt ist es anders, jetzt sind wir an der Macht. Aber wer, mein Kind?« In Brasilien regiert die Arbeiterpa­rtei, es gibt eine Wahrheitsk­ommission, deren Abschlussb­ericht bilanziert: Etliche Folterzent­ren gab es, Tausende wurden inhaftiert und gefoltert, zahllose, zu einem Großteil immer noch nicht identifizi­erte Personen »verschwand­en«. Wem hilft diese Bilanz einer euphemisti­sch »bleiern« genannten Zeit, was sagt sie, wenn die Qual eine andere ist.

Es gibt keine Folterszen­en im Roman, keine Schreie, keine ausgerisse­nen Fingernäge­l, keine Elektrosch­ocks. Zumindest werden sie nicht geschilder­t. Was es nicht einfacher macht. Über dem ganzen Roman schwebt ein Schmerz, eine Verzweiflu­ng, auch Angst, die nur zwischen den Zeilen zu beschreibe­n ist. Der Bogen, den Beatriz Bracher in diesem packenden, vielstimmi­gen Monolog schlägt, ist komplex und verwinkelt, mäandernd – mitreißend in seiner quälenden Auseinande­rsetzung mit dem Unsagbaren.

Wobei Michele Bernstein angeblich auch in Sportzeits­chriften Horoskope für Rennpferde schrieb, um die Kriegskass­e der Situationi­sten zu füllen. »Alle Pferde des Königs« ist auch ein Roman, der das soziale Hintergrun­drauschen der Pariser Bohème in den frühen 60ern illustrier­t. Beatriz Bracher: Die Verdächtig­ung. Roman. A. d. Portug. v. Maria Hummitzsch. Assoziatio­n A. 169 S., geb., 18 €.

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