Roman zur Finanzierung der Revolte
Michele Bernstein: »Alle Pferde des Königs« führt in die Pariser Bohème der frühen Sechziger
Situationisten schreiben für gewöhnlich keine Romane. Sie treten vielmehr an, gängige Kunstformen zu sprengen und praktische Strategien gegen das Spektakel des warenförmigen Kapitalismus im urbanen Raum zu entwickeln. Was ist also davon zu halten, dass 1960 die damals 28jährige Michele Bernstein, Ehefrau des wohl bekanntesten Situationisten Guy Debord und selbst Aktivistin, einen knapp hundert Seiten langen Roman veröffentlichte? Sollte das womöglich ein verklausuliertes Manifest sein? Oder gibt der novellenartige Text um eine Gruppe junger Menschen in Paris und ihre für die damalige Zeit eher skandalträchtige Promiskuität einen Einblick ins Privatleben von Mitgliedern der Situationistischen Internationale?
Lange Zeit war Michele Bernsteins »Alle Pferde des Königs« nicht mehr lieferbar, 2004 wurde das Buch in Frankreich neu aufgelegt, nun gibt es erstmals eine deutsche Übersetzung.
Erzählt wird die Geschichte des Mittzwanziger-Ehepaares Geneviève und Gilles, das in Paris lebt und es mit der Treue in Sachen Liebe nicht so genau nimmt. Gilles beginnt eine Affäre mit der jungen Carole. Die Erzählerin des Romans, Geneviève, lässt sich auf den jungen Bertrand ein. Zwischen Vernissagen, nächtlichen Kneipentouren, stilvollen Besäufnissen und Urlaubsfahrten an die Cote d'Azur entspinnt sich eine erotische Menage zwischen dem avantgardistischen Paar, ihren jugendlichen Liebhabern und anderen Personen. Ein wenig Eifersucht hier, ein Statement zu avantgardistischer Kunst da und jede Menge Leidenschaft gepaart mit einem unbeschwerten Grundgefühl – der süffig zu lesende Roman wirkt auf den ersten Blick eher harmlos. Jedenfalls im Vergleich zur systemkritischen Theorie der Situationisten, ihren ästhetischen Praktiken im Umgang mit dem urbanen Raum und ihren Interventionen im französischen Hochschulbereich, um die Revolte anzustacheln, die 1968 schließlich ihren Höhepunkt erreichte.
»Romane und Bilder werden nach Rezepten komponiert, die gerade genehm sind. Dennoch erwirbt man sich gewisse Verdienste, wenn man sich die Klischees seiner Epoche auf vernünftige Weise zunutze macht«, sagt Geneviève, die Hauptfigur des Romans und Ehefrau von Gilles, dem großstädtischen Freigeist und literarischen Alter Ego von Guy Debord. Nach eigenen Angaben schrieb Michele Bernstein »Alle Pferde des Königs«, um damit das im kapita- listischen Sinn eher unproduktive Leben der Situationisten zu finanzieren. 1959 kam Roger Vadims Verfilmung »Gefährliche Liebschaften« in die Kinos. Der Film scheint ebenso wie Françoise Sagans Bestseller »Bonjour Tristesse« Bernsteins Roman beeinflusst zu haben bzw. das Rezept zu sein, nach dem die junge Situationistin sich die Klischees der Epoche zunutze machte. Auch wenn sie das in Interviews nicht ganz offen zugab, aber durchaus in Andeutungen durchscheinen ließ.
Gleichzeitig enthält der Roman Hinweise auf Theorie und Praxis der Situationisten. Als Gilles, das literarische Alter Ego Guy Debords in dem Roman gefragt wird, womit er sich be- schäftigt, antwortet er: »Mit der Verdinglichung.« »Verstehe, das ist eine sehr ernsthafte Arbeit, mit dicken Büchern und vielen Papieren auf einem großen Tisch.« »Nein, ich gehe spazieren, hauptsächlich gehe ich spazieren.« Insofern ist »Alle Pferde des Königs« nicht nur eine witzige Geldbeschaffungsmaßnahme, um das Leben der Pariser Revolutionsbohème zu finanzieren.
Michele Bernstein: Alle Pferde des Königs. Roman. Edition Nautilus. 128 S., geb., 19.90 €.