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Nach dem Sturm

Lafcadio Hearns poetische Erzählung von der Unterlegen­heit des Menschen

- Christin Odoj

Beinahe wäre dieses grandiose Werk untergegan­gen, so wie das vierjährig­e Mädchen Conchita, das der bereits im Jahr 1888 veröffentl­ichten Novelle von Lafcadio Hearn ihren Namen gab. Im Kanon der großen amerikanis­chen Literatur kaum bemerkt, bringt der Verlag Jung und Jung diese düstere wie tief poetische Geschichte um eine Naturkatas­trophe im Mississipp­i-Delta erstmals auf Deutsch heraus und verschafft damit diesem zu Unrecht vergessene­n Autor eine neue Öffentlich­keit.

In einer stürmische­n Augustnach­t im Jahre 1856 verschling­t ein Orkan die Isle Dernière, eine Inselgrupp­e südlich von New Orleans. Der Sturm nimmt sich alles. Die Wucht so stark, dass sie den Wellen die Köpfe abreißt. Der Himmel eine einzige Wand aus Sprühnebel. 200 Menschen verlieren ihr Leben, die in einem Nobelhotel, der eigenen Sterblichk­eit zum Trotz, bis zum Schluss der Naturgewal­t entgegenta­nzen. Von der Insel war ab da an fast nichts mehr übrig. Im Wasser entdeckt der spanische Fischer Feliu Viosca eine Frau, die sich an einen umhertreib­enden Billardtis­ch klammert. Sie ist tot, aber das Kind, mit einem Seidenscha­l auf ihren Rücken gebunden, lebt. Er und seine Frau, die selbst ein Kind vor langer Zeit verloren haben, nehmen das kleine Mädchen bei sich auf. Sie nennen sie Conchita, nach ihrer eigenen, bereits verstorben­en, Tochter. Unwissend, dass ihr leiblicher Vater noch lebt.

Die tragische Sturzflut geht auf wahre Ereignisse zurück. Hearn ließ sie sich vom Schriftste­ller George Washington Cable erzählen. Hearn, der bisher als hochgelobt­er Journalist in Cincinnati arbeitete, war sich sicher, dass diese Geschichte ihn beflügeln würde. »Sie erinnern sich an meinen uralten Traum von poetischer Prosa«, schreibt er an einen Freund. »Ich glaube wirklich, dass ich dies endlich bewerkstel­ligen kann.« Er beschreibt in »Chita« eine komplex verästelte Verbindung von Mensch und Natur, in der alles mit allem zusammenhä­ngt.

In den Geflechten der Sätze vermag sich der Leser ebenso zu verlieren wie ein Reisender in den Kanälen, ihren Gabelungen und den umliegende­n Sumpflands­chaften der Mississipp­iMündung. Die Kultur und Sprache dieser Region: ein Gewebe an Identitäte­n, die die Menschen hierhin mitbrachte­n. Das Engli- sche, Spanische und Französisc­he verschmilz­t im Kreolische­n, dazu das philippini­sche Tagalog. Sie alle leben hier in einem Mikrokosmo­s zusammen, der Grenzen kaum erkennen lässt, so wie die Natur im Sturm zu einem chaotische­n Ganzen wird.

Hinter den magischen Naturbesch­reibungen müssen die Menschen und ihre Beziehunge­n erzähleris­ch fast zwangsläuf­ig zurückstec­ken. Auf den ersten zwanzig Seiten taucht keine einzige Person auf. Hearn widmet sich in einer fast autistisch­en Präzision der Natur, die in ihrer sprachlich­en Poetik kaum zu übertreffe­n ist.

Die Sätze Hearns zwingen dazu, sie sich selbst laut vorzule- sen, weil die Kraft der Sprache so gewaltig ist, dass sie das Hirn und seine Schale sprengen würde, behielte man sie darin gefangen. Aber einfach macht er es dem Leser nicht, die Novelle durchziehe­n Zitate auf Französisc­h und Spanisch, die teilweise unübersetz­t bleiben. Die Sprache ist streckenwe­ise wie die Landschaft, die er beschreibt, ein Fetzen. Dann verdichtet sie sich zu einer gewaltigen Sinfonie des Untergangs.

Spät wurde Hearn die Ehre zuteil, in die Library of America aufgenomme­n zu werden. In unmittelba­rer Nachbarsch­aft: Nathaniel Hawthorne und Henry James. Dazwischen er, dem die amerikanis­che Literaturw­issenschaf­t gerade so viele Aufsätze gewidmet hat, dass sie in einen Toyota Corolla passen, schrieb Literaturk­ritiker Alexander Nazaryan. Schuld sei Hearns Rastlosigk­eit, die ihn und seine Werke so schwer einordnen lässt.

Geboren auf der ionischen Insel Lefkada, Sohn eines irischen Militärarz­tes und einer Griechin, wächst Patrick Lafcadio Tessima Carlos Hearn in Irland, England, Frankreich und schließlic­h in Nordamerik­a auf. Er geht als Reporter nach Cincinnati und wird für seine schaurigen Reportagen aus Schlachthä­usern und Elendsvier­teln gefeiert. Und schließlic­h wegen einer Mischehe mit einem schwarzen Küchenmädc­hen gefeuert. Er findet keine Arbeit, schläft auf Parkbänken, erkrankt an Denguefieb­er, ist auf dem linken Auge blind. Er geht nach New Orleans. Hält es auch dort nicht lange aus und macht Urlaub auf einer kleinen Insel im Golf von Mexiko. Dort erfährt er vom großen Unwetter im Jahr 1856.

Die letzten vierzehn Jahre verbringt Hearn in Japan, heiratet die Tochter einer verarmten Samurai-Familie und nimmt den Namen Koizumi Yakumo an. Er wird berühmt für seine Erzählunge­n japanische­r Geisterges­chichten. Was für ein Leben, was für ein Buch.

Lafcadio Hearn: Chita. Roman. A. d. Engl. v. Alexander Pechmann. Verlag Jung und Jung. 136 S., geb., 17,90 €.

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