Masturbierender Messias
Lucien Deprijck als kompetenter Reiseführer auf einer lustvollen Seepartie mit Klopstock
Das Magazin »Schöner wohnen«, dem diese lyrische Sentenz entstammt, wäre sicher nach dem Geschmack des Dichters gewesen. Schließlich war Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) schönen Dingen zugetan und die Wortschöpfung »Klickschnappsystem« hätte durchaus seinem »Messias« zur Zierde gereicht. Der Hype um dieses Heldenepos konnte indes nicht verhindern, dass die Popularität des Poeten, der als Begründer der Erlebnisdichtung gilt, mit »Sturm und Drang« und dann der Weimarer Klassik rasch sank. Schon 1753 – erst fünf der zwanzig Gesänge seines Großgedichts über Leiden und Auferstehung Jesu Christi waren erschienen – spottete Lessing: »Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein! / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein.«
Immerhin erfuhr Klopstock zu seinem 250. Geburtstag 1974 in beiden deutschen Staaten Ehrungen. In der DDR war dies Staatsangelegenheit. Galt es doch, »die Ideen der großen Denker der Vergangenheit, das literarische und künstlerische Erbe … noch besser und nachhaltiger zu nutzen«, wie das Zentralkomitee der SED postulierte. In dieses Konzept passte Klopstock mit seinen Sympathien für die Französische Revolution. Allerdings hatte der sensible Seelenmaler nichts übrig für die Terrorherrschaft der Jakobiner, die er als »Gräuel« verurteilte. Im kulturpolitischen DDR-Wochenblatt »Sonntag« wurde Klopstock denn auch zum Vorwurf gemacht, dass »er den revolutionären Prozess letztlich mit moralischen Maßstäben misst«. Nun ist das Messen »mit moralischen Maßstäben« nicht das Schlechteste, was man von einem Menschen sagen kann. Und in Zeiten, da es weiter apologetische Verklärer von »revolutionärer Gewalt«, so des Mordterrors der RAF, gibt, ist ein Klopstock auch in dieser Hinsicht erinnernder Lektüre wert.
Einen dafür perfekten Einstieg bietet der Roman »Ein letzter Tag Unendlichkeit« von Lucien Deprijck. Der Autor aquarelliert in einer seinem Protagonisten kongenialen Sprache das Bild eines Julitages im Jahr 1750, der poetischen Niederschlag fand in ei- ner der schönsten Oden Klopstocks: »Der Zürchersee«. Auf Einladung der Züricher Intellektuellenszene weilte der dank seinem »Messias« be- und gerühmte Deutsche in der Schweiz. Das Pikante der Seepartie war die zu sämtlicher Etikette konträre Provokation amouröser Avancen: Neun Männer und neun Frauen waren vom Organisator, dem Arzt Hans Caspar Hirzel, derart »gepaart« worden, dass die Betreffenden jemand an ihrer Seite hatten, zu dem sie sich ansonsten nicht in Relation befanden. So wurden Ehe- und Geschwisterpaare mit leichter Hand »auseinandergerissen«, um von vornherein eine entsprechend erotisch aufgeladene Stimmung zu schaffen. »Klopstock war klar: Was an diesem Tag geschah, diese Lustfahrt auf dem See, war eine Ungeheuerlichkeit, in allen Einzelheiten ein Affront gegen die gesellschaftlichen Regeln.«
Der Dichter, Ehrengast und Hauptattraktion der hochgestimmten Helvetier, tauchte denn auch willig-begierig ein in das emotionale Mahlwerk des Menschlichen, allzu Menschlichen. Das Faszinosum von Form, Seele und Intellekt der 17-jährigen Anna Maria Schinz, ihr keusches Kokettieren – dazu die perfekt harmonierende äußere Natur inmitten eines Eden-mäßigen Sommertages: Das alles ließ den genialen »Messias«-Schöpfer aus jenem Vollen schöpfen, das den »Durst der Seele nach Harmonie« zu stillen vermag. Er parlierte, fantasierte, rezitierte, deklamierte, charmierte ... masturbierte (direkt in den See) und resümierte: »Ich kann mich nicht erinnern, je so frei und glücklich gewesen zu sein.« Ein Buch, das Lust macht – auch auf Klopstock.
Lucien Deprijck: Ein letzter Tag Unendlichkeit. Geschichte einer Lustfahrt. Roman. Unionsverlag. 237 S., geb., 19,95 €.