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Wie eine 85-Jährige ins Staunen kommt

Waldtraut Lewin wagt es: Sie holt Anne Frank ins Heute

- Christel Berger

Anne Frank: Durch ihr Tagebuch wurde sie zur Ikone. Über sie gibt es Ausstellun­gen, Filme, Theaterstü­cke. Wir alle wissen, wie tragisch sie starb. Dieses Buch ist ein Wagnis, es befreit Anne Frank zu ihrem 70. Todestag aus ihrem Amsterdame­r »Gefängnis-Museum«, holt sie ins Freie. Wir erleben sie trotz ihrer fünfundach­tzig Jahre genauso neugierig, genauso offen, genauso sensibel, wie sie als junges Mädchen war. Fantasie macht es möglich. Anne staunt: Über die so locker in Amsterdam flanierend­en Menschen – kein Judenstern am Kleid, kein Verbotssch­ild an der Bank. Über den so einfachen Bezahlmodu­s mit dem Euro in verschiede­nen Staaten oder einer Karte, die überall gilt. Was es so alles gibt! Einen kleinen Kasten, mit dem man seine Freunde überall jederzeit erreichen kann. Eine Art Schreibmas­chine, die auf die Schnelle Bilder und Informatio­nen liefert. Anne ist begeistert, auch über den Geschmack von Eis und Joghurt, über die lockere Art zu tanzen, die Kleidung, die Mobilität ...

Ihre Begleiteri­n, die Schriftste­llerin Corelli, kommt gar nicht nach mit dem Zeigen und Erklären. Doch so heil und fantastisc­h ist diese unsere Welt nun auch nicht. Anne stößt auf eine Judenbesch­impfung im Internet, wird Zeuge einer Friedhofss­chändung in Frankfurt. Sie fragt nach den Wurzeln von Judenhass und nach der Geschichte ihres Volkes, von der sie wenig weiß. Auch den Staat der Juden will sie selbst kennenlern­en, und sie erlebt ein Dilemma: Wo Frieden herrschen sollte, begegnen ihr Panzer, Raketen, eine Mauer. Anders als erhofft, ist die Welt komplizier­t und schwer durchschau­bar. Wer ist Gegner, wer Freund? Was kann sie tun? Waldtraut Lewin weiß es: weiter fragen, genau hinsehen, schreiben.

Da hat sich Waldtraut Lewin etwas einfallen lassen! Ein Jugendbuch, das eine Ikone ins Heute spinnt und dem Leser nichts erspart. Nicht den Fortschrit­t, nicht die Übel und die Schwierigk­eit der Bewertung. Und sie belässt es nicht dabei. Sie sucht nach Gründen und findet diese vornehmlic­h in Geschichte­n aus der Geschichte. Mit den eingestreu­ten Erzählunge­n begegnet die Autorin der Gefahr des allzu Belehrende­n, die im Konstrukt einer neugierige­n Anne und der erklärende­n Corelli liegt. Es geht halt nicht ohne gediegenes Wissen um die Dinge. Waldtraut Lewin liefert es – mit Charme, Fantasie und Chuzpe.

Waldtraut Lewin: Wenn du jetzt bei mir wärst. Eine Annäherung an Anne Frank. Cbj Verlag. 206 S., geb., 16.99 €.

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