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Das bessere Argument

Auch Politiker sind manchmal politikver­drossen – Halina Wawzyniak will die Spielregel­n der Demokratie verändern, und zwar richtig

- Ines Wallrodt

Das Bild von Politikern in der Öffentlich­keit ist schlecht. Zu Recht, wie Halina Wawzyniak findet, ihres Zeichens selbst Politikeri­n, die sich von der Kritik nicht ausnimmt. Seit 2009 sitzt die Berlinerin für die LINKE im Bundestag und gesteht, dass auch sie sich zuweilen partei-, politik- und parlaments­verdrossen fühle. »Viel zu oft fallen wir in Reflexe, geben schnelle Antworten oder setzen auf Populismus.« Der kurze parteitakt­ische Vorteil zähle mehr als Aufklärung oder der Streit um das beste Argument, schreibt sie in ihrem Buch, mit dem sie ihre Unzufriede­nheit produktiv gemacht hat.

Statt Abkehr und Abgesang auf die parlamenta­rische Demokratie rät die 41-Jährige zum Angriff: auf Rituale und erstarrte Strukturen. »Demokratie demokratis­ieren«, das bedeutet für sie Änderungen am Wahl-, Abgeordnet­en- und Parteienre­cht sowie an der Geschäftso­rdnung des Bundestags, und zwar tiefgreife­nde. Wer jetzt angewidert das Gesicht verzieht, sollte sich vorstellen, wie sehr es einen aufregen würde, wenn auf dem Fußballpla­tz zwölf gegen elf antreten dürften, oder die Trainer den Punktestan­d in der Kabine aushandeln. Für eine Demokratie ist der »Formalkram« wichtig, legt er doch die gemeinsame­n Spielregel­n fest.

Über die demokratis­chen Spielregel­n wurde in der vergangene­n Legislatur im Bundestag heftig gestritten. Negative Stimmgewic­hte, Überhangma­ndate, Nebeneinkü­nfte, Parteispen­den, politische Seitenwech­sler – zu allem wurden inzwischen Gesetze geändert, dennoch greift Wawzyniak die Probleme wieder auf, denn sie seien nicht gelöst. Für jedes Thema stellt sie detaillier­te Eckpunkte für eine Reform auf, was dem Buch den Charakter eines 200 Seiten starken Gesetzentw­urfs gibt. Dabei schreibt sie für eine Juristin und die trockene Materie angenehm gerade und anschaulic­h. Wawzyniak will Schluss machen mit Sperrklaus­eln, die einen Teil der abgegebene­n Stimmen einfach unter den Tisch fallen lassen und den Kreis der Wahlberech­tigten verbreiter­n, radikal ihr Vorschlag, mit der Erststimme die Wahl von Direktkand­idaten abzuschaff­en. Das Problem mit den Überhangma­ndaten, die zwar inzwischen das Wahlergebn­is nicht mehr verzerren, aber den Bundestag vergrößern, ließe sich zwar auch auf anderem Wege einhegen. Wawzyniak setzt jedoch auf die große Lösung und plädiert für ein Einstimmen­wahlrecht bei Verhältnis­wahl und die Möglichkei­t, die Kandidaten­reihenfolg­e zu verändern.

Neben für eine Linkenpoli­tikerin weniger überrasche­nden Forderunge­n wie der, Parteispen­den juristisch­er Personen zu verbieten, enthält das Buch jede Menge Vorschläge, die in ihrer eigenen Partei keine Mehrheit finden würden oder gefunden haben. Einige würden die Bedeutung von Parteien massiv einschränk­en, wie etwa der, dass auch andere Gruppierun­gen die Möglichkei­t haben sollten, Kandidaten zur Wahl aufzustell­en. Widerspruc­h ernten dürfte ihr Votum für ein Regieren mit wechselnde­n Mehrheiten. In manchem erscheint die frühere Vizechefin der LINKEN als Seelenverw­andte der Piraten, etwa in der Hoffnung, mit umfassende­r Transparen­z der Politikver­drossenhei­t beizukomme­n. Der Netzgemein­de dürfte ihre Idee gefallen, Ausschusss­itzungen öffentlich zu machen, an denen sich die Bürger dann online beteiligen.

Wawzyniak verdammt indes nicht alles, sondern verteidigt auch bestehende Regeln gegen populäre Kritik. So hält sie die Bundestags­diäten im Grundsatz für angemessen, ebenso wie das

Halina Wawzyniak: Demokratie demokratis­ieren. Plädoyers für ein besseres Wahl-, Abgeordnet­en- und Parteienre­cht. VSA. 200 S., br., 14,80 €.

Übergangsg­eld. Die Altersabsi­cherung kritisiert sie dann wieder als viel zu hoch, findet die beste Lösung allerdings nicht bei ihrer Fraktion, sondern bei den Grünen. Vielleicht ließe sie sich aber auch umstimmen.

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