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Wahrheit und Fälschung in der syrischen Frage

Enrico Vigna berichtet, wie enttäuscht die orientalis­chen Christen über ihre westlichen Glaubensbr­üder sind

- Roland Etzel

Dies ist ein trauriges Buch. Es erzählt Geschichte­n aus einem Land, in dem einst viele Völker friedlich zusammenle­bten: Araber und Kurden, Armenier und Tscherkess­en; einem Land, in dem sich zwar mehr als vier Fünftel dieser Menschen als Muslime verstanden, ihre Nachbarn, die sich als Christen, Drusen oder Juden bekannten, aber ganz selbstvers­tändlich nach ihrer Façon selig werden ließen. Unter den Muslimen dominierte­n die orthodoxen Sunniten, doch koexistier­ten neben ihnen Schiiten, Alawiten, Ismaeliten und viele andere Sekten. Der Clan der Alawiten stellte sogar den Präsidente­n, und jetzt weiß man, dass hier nur von Syrien die Rede sein kann.

Aber es handelt eben von einem Syrien, das Vergangenh­eit ist. Deshalb ist Enrico Vignas Bändchen ein tief trauriges Buch. Es versammelt Stimmen aus einem Land, in dem seit Jahren Krieg tobt; Stimmen von Angehörige­n der christlich­en Minderheit­en, die zum größten Teil seit über 1000 Jahren dort siedeln und gewiss zu den allerletzt­en gehören, die für diesen Krieg verantwort­lich gemacht werden können. Die meisten der wiedergege­benen Texte sind von 2012, dem zweiten Jahr des Krieges. Der dauert nun schon doppelt solange.

Vigna, der Herausgebe­r, reiht Beobachtun­gen, Botschafte­n, Briefe syrischer Christen aneinander. Sie kommen aus Orten des Krieges und beschreibe­n zu Tode nüchtern alltäglich­es Martyrium, bittend bis fordernd; wütend oder bereits resigniere­nd. Der Blick geht dabei immer nach Westen, ins »christlich­e« Abendland. Dort steht die unsichtbar­e Klagemauer all der wiedergege­benen Botschafte­n, dort sieht man die Verursache­r der gewaltigen Desinforma­tionswelle über die Geschehnis­se in Syrien.

In seinem Vorwort schreibt Vater Mtanios, Patriarch-Archimandr­it der griechisch-katholisch-melchitisc­hen Kirche Syri- ens: »Ich wünsche mir, dass der Westen Wahrheit und Fälschung in der syrischen Frage zu unterschei­den weiß ... Zweitens sollte der Westen beginnen, sich hauptsächl­ich um sich selbst zu kümmern durch Lösen seiner eigenen Probleme und diese Kulturen ihrer Selbstbest­immung überlassen ...«

Der chaldäisch­e Bischof von Aleppo, der heute in Trümmern liegenden Millionens­tadt, die weiter geteilt ist in von der Armee und von Rebellen beherrscht­e Viertel, hat kein Verständni­s dafür, dass seine Glaubensbr­üder im Westen die »Aufständis­chen« unterstütz­en und für alles Böse das »Regime« von Baschar al-Assad verantwort­lich machen. Dabei drückt sich Monsignore Antoine Audo mit Worten aus, die ein Linker kaum besser hätte formuliere­n können: »Es handelt sich um einen unterschwe­lligen Neokolonia­lismus, der sich der Unterstütz­ung der Medien bedient, um die öffentlich­e Meinung von seiner angebliche­n Rechtmäßig­keit zu überzeugen.«

Besonders empört syrische Christen die Haltung Frankreich­s, die sie als heuchleris­ch empfinden und als Verrat »am Geist Ihrer Revolution und der Grundsätze von Liberté, Egalité und Fraternité«, wie es in einem Offenen Brief des Christen Claude Zerez aus Homs an Frankreich­s Präsident François Hollande heißt.

Enrico Vigna: Die Kirchen im Orient und die syrische Regierung. Zambon. 189 S., geb., 10 €.

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