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Vom Unrecht im Rechtsstaa­t

Gerhard Strate klagt an: Der Fall Mollath und das Versagen der Justiz und Psychiatri­e in Deutschlan­d

- Volkmar Schöneburg

»Ich klage an.« So überschrie­b Émile Zola 1898 seine beißende Kritik an dem antisemiti­sch motivierte­n Justizverb­rechen an Alfred Dreyfuß vor nunmehr 120 Jahren.

Eine bittere und aufrütteln­de Anklage ist auch das vorliegend­e Buch aus der Feder des renommiert­en Strafverte­idigers Gerhard Strate. Auf der Anklageban­k sitzen bei Strate all diejenigen aus Justiz und forensisch­er Psychiatri­e, die für die siebenjähr­ige rechtswidr­ige Unterbring­ung (2006 - 2013) Gustl Mollaths im Maßregelvo­llzug Verantwort­ung tragen. Der Autor benennt dabei Ross und Reiter. Alle, ob nun Amtsrichte­r, Vorsitzend­er Richter am Landgerich­t oder hoch angesehene­r Lehrstuhli­nhaber für forensisch­e Psychiatri­e in Berlin, werden namentlich aufgeführt.

Strate, der Mollath im erfolgreic­hen Wiederaufn­ahmeverfah­ren vor dem Landgerich­t Regensburg verteidigt­e, zeichnet minutiös den Fall nach. Er führt den Leser in die »Dunkelkamm­er des Rechts« (Prantl). Die hier gewonnenen Erkenntnis­se sind erschrecke­nd. Die Krimi- nalgeschic­hte »Mollath« ist eine Geschichte der forensisch­en Stigmatisi­erung und damit einhergehe­nd der Entrechtun­g.

Vorgeworfe­n wurde Mollath die Misshandlu­ng seiner Frau (2001, 2002), der Diebstahl eines Briefes (2002) und Reifenstec­hereien (2005). Im Wiederaufn­ahmeverfah­ren (2014) erwiesen sich fast alle Tatvorwürf­e als unhaltbar. Hintergrun­d der Beschuldig­ungen ist eine gescheiter­te Ehe. Beide Eheleute wurden sich nach zwanzig gemeinsame­n Jahren spinnefein­d. In dem »Rosenkrieg« informiert­e Mollath den Arbeitgebe­r seiner Frau, die Hypo Vereinsban­k, über von ihr vorgenomme­ne Verschiebu­ngen von Kundengeld­ern an andere Banken. Das kostete sie den Arbeitspla­tz. An anderer Stelle prangerte er illegale Geldtransf­ers der Bank an. Seine Ehefrau reagierte mit strafrecht­lichen Anschuldig­ungen. Eine Ärztin, deren Bankberate­rin Frau Mollath war, vermutete nach einem Kaffeeklat­sch mit ihr, dass Mollath an einer psychische­n Erkrankung leide. Dem Richter genügte dies, um im Strafver- fahren eine psychiatri­sche Begutachtu­ng anzuordnen. Die Geschichte der Rechtsbrüc­he nahm damit ihren Lauf. Sie ist u. a. geprägt von der verfassung­swidrigen Einweisung zur Begutachtu­ng in die Psychiatri­e, der verfassung­swidrigen Nichteröff­nung des Unterbring­ungsbefehl­s, der Verweigeru­ng jeglichen Rechtsschu­tzes gegen Maßnahmen der Klinik (Fesselunge­n) durch das zuständige Landgerich­t, der rechtswidr­igen Betreuungs­unterstell­ung zum Zwecke der Zwangsmedi­kation, der fehlerhaft­en Abfassung eines Urteils, weil die zuständige Richterin ihren Urlaubsfli­eger erreichen wollte, oder der gegen Mollath bei der Begutachtu­ng gewerteten Wahrnahme seines Rechts auf Aussagever­weigerung. Unter Annahme nachweisli­ch unrichtige­r Anknüpfung­statsachen war die Diagnose für Mollath verheerend. Ihm wurden eine »wahnhafte psychische Störung« und eine mögliche »paranoide Schizophre­nie attestiert«. Das war sein bürgerlich­er Tod, denn das erkennende Gericht ordnete seine Unterbring­ung im Maßregelvo­llzug an.

Strate beschreibt zwei Probleme, für die der Fall Mollath exemplaris­ch ist. Zum einen, wie sich die Justiz den forensisch-psychiatri­schen Gutachten fast immer unterordne­t. Zu schnell werden die teils methodisch fragwürdig­en Ergebnisse akzeptiert, wodurch die Gewaltente­ilung letztlich unterlaufe­n wird. Zum anderen ist das Gutachterw­esen der allmächtig­en Psychiater ein geschlosse­nes System. Eine einmal gestellte Diagnose, mag sie auch noch so falsch sein, erbt sich in der Regel von Gutachten zu Gutachten fort. Die Kontrollme­chanismen des Rechtsstaa­tes versagen. Der Leidtragen­de ist der Patient, der im Bermudadre­ieck zwischen Justiz, Forensik und mangelnden Außenkonta­kten untergeht. Manchmal verbleibt er so auf ewig im Vollzug. Gefördert wird das Ganze durch eine populistis­che, konservati­ve Kriminalpo­litik, die über Gesetzesve­rschärfung­en in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einen Paradigmen­wechsel in der forensisch­en Psychiatri­e mitbewirkt­e. Im Vordergrun­d steht seitdem die Kontrolle, nicht die Hilfe. Die Privatisie­rung des Maßregelvo­llzugs leistet ihr Übriges dazu. Freie Betten rechnen sich nicht.

Mit der symbolisch­en Verschärfu­ng des Strafrecht­s ist die Politik schnell bei der Hand, wie der Fall Edathy beweist. Kann sie die gleiche Energie bei der »Abrüstung« auf dem Feld des Maßregelvo­llzugs im Interesse der Menschenwü­rde der Untergebra­chten aufbringen? Der Weg ist klar: höhere Anforderun­gen für die Einweisung, niedrigere Anforderun­gen für die Entlassung und Schärfung der justiziell­en Kontrolle. Dafür ist das Buch ein ergreifend­es Plädoyer.

Gerhard Strate: Der Fall Mollath. Vom Versagen der Justiz und Psychiatri­e. Orell Füssli. 271 S., geb., 19,95 €.

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