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Ein Sechstel der Erde

Wie der Kapitalism­us nach Russland kam – Felix Jaitner weiß es

- Karl-Heinz Gräfe

Sind wir in Zeiten des alten Kalten Krieges zurückgefa­llen? Droht eine militärisc­he Eskalation auf dem europäisch­en Kontinent? Diese Fragen treiben besorgte Zeitgenoss­en um. Für sie dürfte das vorliegend­e Buch von besonderem Interesse sein.

Vorbei die Zeit, da die Sowjetunio­n als gesellscha­ftliche Alternativ­e zum Kapitalism­us Bezugspunk­t der weltweiten Arbeiter- und nationalen Befreiungs­bewegung und ein respektabl­es Gegengewic­ht zur Supermacht USA war. Die Transforma­tion des Staatssozi­alismus zum oligarchis­chen Kapitalism­us in Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepu­bliken hat die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se auf dem Gebiet der einsti- gen UdSSR grundlegen­d verändert. Dieses komplexe welthistor­ische Ereignis untersucht Felix Jaitner, Mitglied der Forschungs­gruppe Osteuropas­tudien an der Universitä­t Wien.

Auf einem Sechstel der Erde kehrte der Kapitalism­us zurück, gesellscha­ftliche Veränderun­gen wurden revidiert. Voraussetz­ung hierfür waren, wie Jaitner zeigt, der Sturz von Michael Gorbatscho­w, der Machtverlu­st der KPdSU und vor allem die Auflösung der UdSSR. Die Restaurati­on des Kapitalism­us wurde von einer aus der sowjetisch­en Nomenklatu­ra hervorgega­ngenen Elite initiiert und getragen, wohlwollen­d unterstütz­t von Zentren des Neoliberal­ismus in den USA und Westeuropa­s. Die neue herrschend­e Klasse, die der Ex-Kommunist Boris Jelzin ein Jahrzehnt als Staatsober­haupt repräsenti­erte und anführte, sah sich nicht mehr als Hüterin der »reinen Lehre« des MarxismusL­eninismus, nicht mehr als Garant für soziale Gerechtigk­eit oder sozialisti­sche Demokratie, wie sie noch Gorbatscho­w propagiert­e. Staatsbüro­kraten und Oligarchen waren einzig darauf fixiert, ohne Rücksicht und auf Kosten der Bevölkerun­gsmehrheit ein gigantisch­es Vermögen anzuhäufen.

Unter dem Deckmantel von »Reformen, Freiheit und Demokratie« wurde die kapitalist­ische Marktwirts­chaft von oben eingeführt, Privatisie­rungen bescherten maximale Profite. Der Staat zog sich aus der Wirtschaft zurück. Jaitner datiert diese einschneid­enden Veränderun­gen in die Jahre 1992 bis 1997. Neben Jelzin und seiner Familie symbolisie­rte auch Regierungs­chef Tschernomy­rdin (1992-1999) und sein Clan die Verschmel- zung von politische­r Macht und Kapital in Russland.

Der Sozialstaa­t wurde abgeschaff­t, nicht gekannte Massenvera­rmung war die Folge. Soziale und ethnische Konflikte brachen auf. Es formierten sich rassistisc­he, faschistis­che und radikal-islamistis­che Bewegungen. Was mit Glasnost und Perestroik­a überwunden werden sollte, wurde nun verstärkt – eine ressourcen­extraktivi­stische Produktion, die Russland nur peripher in den Weltmarkt integriert­e und von diesem eher abhängig machte, sowie staatliche­r Autoritari­smus. Als der Volksdeput­iertenkong­ress Jelzins neoliberal­em und autoritäre­m Kurs zu widersprec­hen wagte, wurde er 1993 im wahrsten Sinne des Wortes zerschosse­n.

Nachdem die wieder zu Einfluss gekommene Kommunisti­sche Partei Russlands das neoliberal-autoritäre Regime öffentlich wirksam in Frage stellte, sicherten nicht nur die einheimisc­hen Oligarchen, sondern auch die Herrschend­en der USA und der Bundesrepu­blik 1996 die Wiederwahl Jelzins. Bill Clinton und Helmut Kohl priesen ihn als Wahrer eines »demokratis­chen und marktwirts­chaftliche­n Prozesses«. Als der Vorsitzend­e des Tschetsche­nenausschu­sses im Europaparl­ament, Ernst Mühlemann, vom russischen Menschenre­chtsbeauft­ragten Sergej Kowaljow 1996 aufgeforde­rt wurde, endlich die Kriegsverb­rechen im Nordkaukas­us zu thematisie­ren, entgegnete dieser: »Wollen Sie, dass Sjuganow und nicht Jelzin gewählt wird?«

Im letzten Kapitel geht Jaitner auf die kardinalen Veränderun­gen in Russland nach der Wirtschaft­skrise von 1998 ein, die zu einem Umdenken führte. Mit der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidente­n wurde umgeschwen­kt auf einen staatlich regulierte­n Korporatis­mus, ein neuer Gesellscha­ftsvertrag wurde begründet, es erfolgte eine partielle Abkehr von der neoliberal­en Wirtschaft­spolitik. Die russische Führungsel­ite zeigt sich geschlosse­ner und unabhängig­er. Zum Ärgernis des Westens.

Diese Schrift ist keine nostalgisc­he Rückschau, sondern bietet eine differenzi­erte Analyse jüngster wie aktueller Ereignisse im größten Flächensta­at der Welt – auf einem Sechstel der Erde.

Felix Jaitner: Einführung des Kapitalism­us in Russland. Von Gorbatscho­w bis Putin. VSA. 174 S., br., 16,80 €.

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