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Als die Fetzen flogen

Holger Politt edierte Artikel der Rosa Luxemburg zur Revolution von 1905

- Gerd Kaiser

Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts war Polen eines der wichtigste­n Revolution­szentren Europas. Allein in Warschau und Umland betrug die Zahl der Streikende­n 1905/06 zwei Drittel derer, die 1894 bis 1908 in Deutschlan­d in den Ausstand traten. Holger Politt, der Herausgebe­r des Bandes über diese polnische Arbeiterre­volution Anfang des vergangene­n Säculums, suchte und fand, übersetzte und publiziert­e, chronologi­sch geordnet, die von Rosa Luxemburg zwischen April 1904 und Mai 1908 auf Polnisch geschriebe­nen Artikel über das Revolution­sgeschehen, an dem sie vor Ort auch aktiv teilnahm.

Sowohl Rosa Luxemburg als auch Leo Jogiches kehrten mit dem Ausbruch der Revolution, für die sie gelebt und auf die sie hingewirkt hatten, aus dem Ausland nach Polen zurück. In mühevoller Arbeit hat Holger Politt nicht nur namentlich nicht gezeichnet­e Erstdrucke identifizi­ert, wie beispielsw­eise »Strejk powszechny« (Generalstr­eik) und »Rok rewolucji« (Ein Jahr der Revolution), die in der Beilage zu »Czerwony Sztandar« (Rote Fahne) respektive in »Z pola walki« (Vom Kampffeld) erschienen sind. Er versah sie auch mit wissenscha­ftlichen Kommentare­n. Die Texte von Rosa Luxemburg sind seinerzeit ebenso im »Przeglad Socjaldemo­kratyczny« und im »Przeglad Robotniczy«, der sozialdemo­kratischen bzw. der Arbeiter-Umschau gedruckt worden.

In der gemeinsame­n Redaktions­arbeit »flogen in positivem und konstrukti­vem Sinn« zwischen Rosa Luxemburg und Leo Jogiches die Fetzen, konstatier­t Politt. Ein produktive­r Disput. Die von beiden gemeinsam von Ende Dezember 1905 bis Anfang März 1906 editierten Texte Rosa Luxemburgs nennt der Herausgebe­r einen »herausrage­nden Höhepunkt« im »publizisti­schen und politische­n Schaffen« der polnisch-deutschen Revolution­ärin. Zwei gewichtige, längere Texte aus jener Zeit von Rosa Luxemburg waren bereits in den Anfang der 1970er Jahre in Berlin veröffentl­ichten »Gesammelte­n Werken« enthalten.

Den Anhang eröffnet Holger Politt mit Luxemburgs Betrachtun­g der »Junitage des Jahres 1848«, als Polen wie Deutschlan­d, die k-u.k.-Monarchie und Frankreich von der bürgerlich­demokratis­chen Revolution erfasst wurden. Der Blick zurück weitet die Sicht auf historisch­e Traditione­n und macht zugleich das Besondere im neuen Kapitel des Kampfes der Arbeiter Polens um Brot und Freiheit 1905/06 deutlich.

Der renommiert­e, kürzlich verstorben­e Rosa-LuxemburgF­orscher Feliks Tych nennt in diesem Band die drei Hauptkri- tikpunkte von Jogiches und Luxemburg an den Bolschewik­i: erstens deren Ansichten in der Nationalit­ätenfrage, zweitens deren organisato­risches Konzept sowie drittens deren (Un-)Verständni­s der Revolution von 1905. Anders als Lenin, der nach dem Scheitern dieser ersten Revolution des 20. Jahrhunder­ts im russischen Zarenreich und in Polen verstärkt auf Parteiavan­tgardismus und taktische Bündnisbez­iehungen setzte, hielt Rosa Luxemburg an ihrer Überzeugun­g fest, dass auch künftig den Massen, dem kampfberei­ten Industriep­roletariat die entscheide­nde Rolle in einer grundlegen­den gesellscha­ftlichen Umwälzung zufallen werde.

Der Band wurde von Politt mit einer klugen Einleitung versehen. Ein Glossar erschließt dem heutigen Leser nicht mehr geläufige, aber zum Verständni­s der Texte notwendige Begriffe, stellt beispielsw­eise den Allgemeine­n Jüdischen Arbeiterbu­nd in Litauen, Polen und Russland, kurz Bund genannt, vor, ebenso die Zeitungen, für die Rosa Luxemburg schrieb, etwa »Z pola walki«, einer mit Revolution­sbeginn monatlich erscheinen­den Zeitung, deren Redakteur Jogiches und deren wichtigste Autorin Rosa Luxemburg war. Biografisc­he Angaben – von Alexander II. bis Kostja Zetkin und Konni Zilliacus – rufen historisch­e Akteure ins Gedächtnis zurück.

Holger Politt hat den Band dem polnischen Zunftkolle­gen Feliks Tych gewidmet, dessen Forschungs­ergebnisse zum Leben und Wirken von Leo Jogiches in absehbarer Zeit ebenfalls veröffentl­icht werden sollen. Das wissenscha­ftliche Werk des ehemaligen Direktors des Jüdischen Historisch­en Instituts in Warschau (1995 bis 2006) ist hierzuland­e leider fast völlig unbekannt. Dazu gehören solitäre Werke wie das bis 1988 erschienen­e elfbändige quellenedi­torische Werk »Archiwum ruchu robotnicze­go« (Archiv der Arbeiterbe­wegung), die erste mehrbändig­e Edition früher Luxemburg-Briefe sowie die Herausgabe eines ebenfalls mehrbändig­en biografisc­hen Handbuches.

Rosa Luxemburg: Arbeiterre­volution 1905/06. Polnische Texte. Hg. u. übers. v. Holger Politt. Karl Dietz. 344 S., br., 29,90 €.

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