Lektüre mit Würgeffekt
Wolfgang Schnur gesteht: Gier nach Aufmerksamkeit wurde zum Bumerang
Er hat es wieder getan. Erst Ende Februar machte die Bild-Zeitung Auflage mit dem Bekenntnis von Wolfgang Schnur, Krebs im Endstadium zu haben. Endlich wieder einmal eine Schlagzeile für den Mann, der sein Leben lang um Aufmerksamkeit kämpfte, geradezu süchtig nach Anerkennung war – und offenbar auch in den letzten Tagen, Wochen oder Monaten seines verkorksten Lebens nicht vom süßen Gift eines öffentlichen Lebens lassen kann.
Mit allen Mitteln, wie wir bislang ahnten und nach der Lektüre des Buches über den verratenen Verräter nun endgültig wissen, wollte er fast 25 Jahre am ganz großen Rad in der DDR drehen: als zuverlässiger Informant, als vertrauenswürdiger Rechtsanwalt, als engagierter Kirchenvertreter – all diese Rollen hat er mit Verve ausgefüllt.
Selbst wenn der Leser in Rechnung stellt, dass der Autor des Buches eines der Opfer von Schnurs mehrfachem Mandantenverrat gewesen ist und also wahrlich keinen Grund hatte, mit seinem »Haupthelden« besonders behutsam umzugehen – was Alexander Kobylinski nach Gesprächen mit Schnur und akribischem Aktenstudium zu Papier gebracht hat, ist alles andere als leicht verdauliche Kost. Es verursacht geradezu Würgeffekte, auf welch anbiedernde Weise sich der heute fast 71-jährige Schnur Mitte der 1960er Jahre dem Ministerium für Staatssicherheit zunächst in Rostock andiente, wie er sich in Berlin beim zuständigen Minister Erich Mielke beschwerte, weil er sich zu wenig in mögliche Spitzeldienste einbezogen fühlte, wie er seinen beruflichen Weg als Anwalt und sein Engagement in der Kirche mit Hilfe schützender Begleitung durch die Führungsoffiziere kontinuierlich und durchaus erfolgreich vorantrieb. Es war freilich nur eine Frage der Zeit, dass mit der immer enger werdenden Verflechtung zwischen seinen Auftraggebern und ihrem Zuträger auch materielle Gelüste nach einem Bungalow, dem Auto und der Barschaft aus der anderen deutschen Republik in den Protokollen eine Rolle spielten.
Nein, »IM Torsten« bzw. später »Dr. Ralf Schirmer« kannte offensichtlich keine Skrupel – höchstens den, sich als Wolfgang Schnur mit beiden vollends gemein zu machen, weshalb er oft in der dritten Person von den Erkenntnissen der beiden berichtete. Und das von ihm höchstselbst bestätigte vernichtende Urteil, ein Verräter zu sein, wird auch nicht abgeschwächt, wenn man erfährt, dass Schnur gleich zweimal von der Mutter verlassen und in ein Heim gesteckt wurde. Niemand kann sich ein Leben lang auf seine schwierige Kindheit berufen, niemand wird deshalb der Verantwortung für das eigene Tun enthoben.
Und dennoch: Dass Enttäuschung, Geltungsdrang und Aufmerksamkeitsdefizite von seinen MfS-Partnern gezielt und ohne moralische Bedenken genutzt wurden, um aus dem ohnehin willfährigen Mann einen Spitzenspitzel zu machen, der das Vertrauen seiner Mandanten ebenso missbrauchte, wie das seiner Gönner in der Kirche, richtet den Fokus auch auf einen nicht gerade wählerischen Geheimdienst. Einen, dem trotz existierender Zweifel – von denen es bei IM Torsten genug gab – offenbar jedes Mittel recht war, um aus Kreisen der Bausoldaten, im kirchlichen Umfeld und unter Oppositionellen an Informationen, Stimmungsbilder, Lageskizzen zu gelangen.
Noch im Herbst 1989 setzte die Staatssicherheit auf Schnur, als der sich nicht eben überraschend in der ihm eigenen temporären Begeisterung mit Vehemenz den Aufbegehrenden in der DDR anschloss und zur Galionsfigur des Demokratischen Aufbruchs wurde. Beinahe wäre der Mann DDRMinisterpräsident geworden. Wenn, ja wenn nicht aus dem Verräter ein verratener Verräter geworden wäre. Aber kann darauf ernstlich jemand stolz sein?
Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel. Mitteldeutscher Verlag. 382 S., geb., 19,95 €.