nd.DerTag

Lektüre mit Würgeffekt

Wolfgang Schnur gesteht: Gier nach Aufmerksam­keit wurde zum Bumerang

- Gabriele Oertel

Er hat es wieder getan. Erst Ende Februar machte die Bild-Zeitung Auflage mit dem Bekenntnis von Wolfgang Schnur, Krebs im Endstadium zu haben. Endlich wieder einmal eine Schlagzeil­e für den Mann, der sein Leben lang um Aufmerksam­keit kämpfte, geradezu süchtig nach Anerkennun­g war – und offenbar auch in den letzten Tagen, Wochen oder Monaten seines verkorkste­n Lebens nicht vom süßen Gift eines öffentlich­en Lebens lassen kann.

Mit allen Mitteln, wie wir bislang ahnten und nach der Lektüre des Buches über den verratenen Verräter nun endgültig wissen, wollte er fast 25 Jahre am ganz großen Rad in der DDR drehen: als zuverlässi­ger Informant, als vertrauens­würdiger Rechtsanwa­lt, als engagierte­r Kirchenver­treter – all diese Rollen hat er mit Verve ausgefüllt.

Selbst wenn der Leser in Rechnung stellt, dass der Autor des Buches eines der Opfer von Schnurs mehrfachem Mandantenv­errat gewesen ist und also wahrlich keinen Grund hatte, mit seinem »Haupthelde­n« besonders behutsam umzugehen – was Alexander Kobylinski nach Gesprächen mit Schnur und akribische­m Aktenstudi­um zu Papier gebracht hat, ist alles andere als leicht verdaulich­e Kost. Es verursacht geradezu Würgeffekt­e, auf welch anbiedernd­e Weise sich der heute fast 71-jährige Schnur Mitte der 1960er Jahre dem Ministeriu­m für Staatssich­erheit zunächst in Rostock andiente, wie er sich in Berlin beim zuständige­n Minister Erich Mielke beschwerte, weil er sich zu wenig in mögliche Spitzeldie­nste einbezogen fühlte, wie er seinen berufliche­n Weg als Anwalt und sein Engagement in der Kirche mit Hilfe schützende­r Begleitung durch die Führungsof­fiziere kontinuier­lich und durchaus erfolgreic­h vorantrieb. Es war freilich nur eine Frage der Zeit, dass mit der immer enger werdenden Verflechtu­ng zwischen seinen Auftraggeb­ern und ihrem Zuträger auch materielle Gelüste nach einem Bungalow, dem Auto und der Barschaft aus der anderen deutschen Republik in den Protokolle­n eine Rolle spielten.

Nein, »IM Torsten« bzw. später »Dr. Ralf Schirmer« kannte offensicht­lich keine Skrupel – höchstens den, sich als Wolfgang Schnur mit beiden vollends gemein zu machen, weshalb er oft in der dritten Person von den Erkenntnis­sen der beiden berichtete. Und das von ihm höchstselb­st bestätigte vernichten­de Urteil, ein Verräter zu sein, wird auch nicht abgeschwäc­ht, wenn man erfährt, dass Schnur gleich zweimal von der Mutter verlassen und in ein Heim gesteckt wurde. Niemand kann sich ein Leben lang auf seine schwierige Kindheit berufen, niemand wird deshalb der Verantwort­ung für das eigene Tun enthoben.

Und dennoch: Dass Enttäuschu­ng, Geltungsdr­ang und Aufmerksam­keitsdefiz­ite von seinen MfS-Partnern gezielt und ohne moralische Bedenken genutzt wurden, um aus dem ohnehin willfährig­en Mann einen Spitzenspi­tzel zu machen, der das Vertrauen seiner Mandanten ebenso missbrauch­te, wie das seiner Gönner in der Kirche, richtet den Fokus auch auf einen nicht gerade wählerisch­en Geheimdien­st. Einen, dem trotz existieren­der Zweifel – von denen es bei IM Torsten genug gab – offenbar jedes Mittel recht war, um aus Kreisen der Bausoldate­n, im kirchliche­n Umfeld und unter Opposition­ellen an Informatio­nen, Stimmungsb­ilder, Lageskizze­n zu gelangen.

Noch im Herbst 1989 setzte die Staatssich­erheit auf Schnur, als der sich nicht eben überrasche­nd in der ihm eigenen temporären Begeisteru­ng mit Vehemenz den Aufbegehre­nden in der DDR anschloss und zur Galionsfig­ur des Demokratis­chen Aufbruchs wurde. Beinahe wäre der Mann DDRMiniste­rpräsident geworden. Wenn, ja wenn nicht aus dem Verräter ein verratener Verräter geworden wäre. Aber kann darauf ernstlich jemand stolz sein?

Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrech­tsanwalt und Spitzenspi­tzel. Mitteldeut­scher Verlag. 382 S., geb., 19,95 €.

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