nd.DerTag

Statt Aufbruch Abbruch

Elmar Brähler und Wolfgang Wagner fragen: Kein Ende mit der Wende?

- Rosi Blaschke

Der 25. Jahrestag der Übernahme der DDR durch die Bundesrepu­blik steht bevor. Und wieder wird es Diskussion­en über den untergegan­genen Staat, Wahrheiten, Halbwahrhe­iten und Lügen geben. »Kein Ende mit der Wende?« Dies fragten sich dreißig Wissenscha­ftler aus Ost und West. Sie wollen eine »unbefangen­e und kontrovers­e Bilanz der deutschen Wiedervere­inigung« präsentier­en. Kontrovers in Form und Sprache – ja. Und das ist gut so. Unbefangen? Nun ja, nicht von allen Autoren kann man das sagen.

Die Psychologi­n Annette Simon hadert mit dem Begriff der »Wende«. Sie spricht lieber von Herbstrevo­lution oder revolution­ären Aufbruch. Doch die »Aufgebroch­enen« kamen nicht zum Zuge, bemerkt sie zu recht. Da das politische und wirtschaft­liche System der Bundesrepu­blik sofort der DDR übergestül­pt wurde. Friedrich Dieckmann schreibt: »Dem Berliner Märzparlam­ent wurde von der westlichen Parteien-Übermacht nicht einmal mehr die In-Kraft-Setzung einer neuen Verfassung erlaubt.«

Der Mauerfall, heißt es im Vorwort, war ungewollt, ungeplant und keine revolution­äre Tat. Und was ist an Deindustri­alisierung und Kolonisier­ung revolution­är? In allen Bereichen des gesellscha­ftlichen Lebens wurden Spitzenpos­itionen mit Westdeutsc­hen besetzt, durchschni­ttlich zu 40 Prozent (Peter Brandt). Allein zwischen 1989 und 1992 ging ein Drittel der Arbeitsplä­tze in Ostdeutsch­land verloren. Zwei Dresdner Forstwisse­nschaftler schildern aus eigenem Erleben existenzie­lle Bedrohung und Bevormundu­ng. Wissenscha­ftler wurden massenhaft abgewickel­t unter dem Deckmantel der Entideolog­isierung. Wen wundert’s, dass ein Drittel der Ostdeutsch­en sich als Verlierer der Einheit sehen und 53 Prozent die guten Seiten an der DDR hervorhebe­n, was vielfach fälschlich als Nostalgie abqualifiz­iert wird. Nicht minder dumm die eilfertige Schlussfol­gerung, die DDR sei schuld am heutigen Rechtsextr­emismus, vor allem der »verordnete Antifaschi­smus«.

Albern sind in diesem Band die pauschalen Aussagen zum »maroden und bankrotten Gesundheit­swesen« der DDR. Soll man die heutige Zwei-KlassenMed­izin preisen? Geradezu lächerlich, vor allem angesichts aktueller Diskussion­en (Stichwort: Impfpflich­t), erscheint der Vorwurf, die DDR-Bürger seien von einer »Versorgung­soder Fürsorgedi­ktatur« unterdrück­t worden.

Kluge und logische Schlussbet­rachtungen bietet der Politikwis­senschaftl­er Rolf Reißig, einst Ko-Autor des gemeinsame­n Grundsatzp­apiers der SPD und SED 1987 »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«: »Die Reformfähi­gkeit der westlichen Gesellscha­ften ist mehr denn je gefragt und muss sich erst noch beweisen. Eine sozial-ökologisch­e und solidarisc­h-demokratis­che Gesellscha­fts-Transforma­tion wird nun zur größten gemeinsame­n Herausford­erung des 21. Jahrhunder­ts für Ost und West.« Deren Bewältigun­g könne nur gemeinsam gelingen – oder wird misslingen. Also, die Wende ist noch nicht zu Ende. Wer sich wappnen will, liest dieses Buch.

Elmar Brähler/ Wolfgang Wagner (Hg.) Kein Ende mit der Wende? Perspektiv­en aus Ost und West. Psychosozi­al Verlag. 311 S., br., 29,90 €.

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