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Als man mit indischen Stoffen in Afrika Sklaven für Amerika kaufte

Sven Beckert beschreibt am Beispiel der Baumwolle die Entstehung des Weltmarkte­s und Kapitalism­us als ein globales System

- Raul Zelik

Eine der großen Historiker­fragen lautet, warum der Kapitalism­us ausgerechn­et in Europa entstand und sich von hier aus ausbreiten konnte. Immerhin waren andere Weltregion­en im 13. oder 14. Jahrhunder­t höher entwickelt – der Stand der Technologi­e allein kann es also nicht gewesen sein. Viele Historiker verweisen in diesem Zusammenha­ng auf die Kontingenz sich gegenseiti­g verstärken­der Faktoren: der Konkurrenz­druck zwischen Produzente­n, die Verfügbark­eit von Kapital, der Zuzug von Arbeitskrä­ften vom Land, die relative politische Autonomie der Städte, die Leistungse­thik des protestant­ischen Bürgertums etc.

Der in Harvard lehrende Historiker Sven Beckert rückt zwei weitere Aspekte in den Fokus: den »Kriegskapi­talismus«, also die blutige Enteignung von Land, und die massenhaft­e Versklavun­g von Arbeitskrä­ften im Rahmen kolonialer Herrschaft, sowie das Entstehen einer modernen Staatlichk­eit, die den Krieg nach außen mit einer Verrechtli­chung der Machtbezie­hungen nach innen verband.

Beckerts Buch ist eine empirisch bestens fundierte Untersuchu­ng zur Geschichte der Baumwolle – von Anbau und Verarbeitu­ng bis hin zum Massenkons­um. Der 1965 in Deutschlan­d geborene Autor baut daraus, sehr elegant, eine weltumspan­nende Sozialgesc­hichte des Kapitalism­us. Dass die Industrial­isierung Europas mit der blutigen Kolonialis­ierung des Südens einherging und die Entfaltung des freien Unternehme­rtums einer Staatsmach­t bedurfte, die traditione­lle Solidargem­einschafte­n mit Gewalt zerschlug, dürfte Lesern von Marx, Fanon oder Foucault nicht unbekannt sein. Doch selten zuvor sind diese Prozesse so anschaulic­h, konkret und verdichtet dargestell­t worden wie in »King Cotton«. Beckert wiederholt nämlich nicht einfach die altbekannt­e These, wonach Massenvere­lendung und Reichtum, Unterentwi­cklung und Akkumulati­on miteinande­r verzahnt sind. Er weist dies am Beispiel der Baumwolle detaillier­t nach. Dabei stützt er sich zunächst auf die These, dass die Baumwolle jenes Produkt war, das die Herausbild­ung globaler Produktion­s- und Handelsnet­zwerke ermöglicht­e.

Die Baumwollve­rarbeitung hatte sich in Asien, Afrika und Lateinamer­ika unabhängig voneinande­r entwickelt und spielte in Europa zunächst kaum eine Rolle. Dass Baumwollte­xtilien ab 1600 rasant an Bedeutung gewannen, verdankte sich europäisch­en Händlern, die in Indien Stoffe erwarben, um sie in Afrika gegen Sklaven einzutausc­hen. Auf diese Weise wurde in Lateinamer­ika die Plantagenö­konomie etabliert. »Niemals zuvor in den fünf Jahrtausen­den der Geschichte der Baumwolle«, schreibt Beckert, »war ein solch weltumspan­nendes System entwickelt worden. Nie zuvor hatte man mit den Erzeugniss­en indi- scher Weber Sklaven in Afrika gekauft, damit diese auf Plantagen in Amerika arbeiteten, wo sie Agrarprodu­kte für europäisch­e Verbrauche­r herstellte­n.«

Mit der wachsenden Nachfrage nach Baumwollte­xtilien entstand ab 1600 auch in Europa, zunächst vor allem in Großbritan­nien, ein baumwollve­rarbeitend­es Gewerbe. Da Löhne und Arbeitsbed­ingungen in den Städten von den Gilden bestimmt wurden, schuf sich die Industrial­isierung ihr eigenes Prekariat. Die Spinner und Weber arbeiteten oft in einem »Verlagssys­tem«, also in Heimarbeit, und lebten in der ländlichen Peripherie von Städten. Erst die von der Staatsmach­t betriebene Zerschlagu­ng bäuerliche­r Gemeinscha­ften und die Privatisie­rung von Allmendegü­tern sorgten dann für den massenhaft­en Zustrom billiger Arbeitskrä­fte in die Städte, der ein »freies« Lohnarbeit­ssystem möglich machte. Die technische­n Entwicklun­gen taten ein Übriges: Sie erhöhten die Produktivi­tät und verschafft­en den europäisch­en Produzente­n Wettbewerb­svorteile.

Im Unterschie­d zu vielen anderen wirtschaft­shistorisc­hen Darstellun­gen beschreibt »King Cotton« den Globalisie­rungsund Industrial­isierungsp­rozess nicht als Gegenpol zur ursprüngli­chen Akkumulati­on. Zugleich zeigt er, dass die zentrale Idee des Liberalism­us – nämlich die Vorstellun­g von sich selbst gestaltend­en, autonomen Märkten – wirtschaft­shistorisc­h kaum zu halten ist. Dass sich europäisch­e Staaten und später die USA in der globalen Arbeitstei- lung so erfolgreic­h behaupten konnten, war vor allem der Herausbild­ung einer modernen Staatsmach­t geschuldet, die nicht nur für Rechtssich­erheit zwischen Handelspar­tnern sorgte, sondern auch Arbeitsver­weigerer verfolgte. Der moderne Staat beruhte auf der Zweiteilun­g der Welt. »Die ›innere Welt‹ beruhte auf Gesetzen, Institutio­nen und Regeln des Heimatland­es. Die ›äußere Welt‹ dagegen war gekennzeic­hnet von imperialer Herrschaft, ungestraft­er Enteignung riesiger Gebiete und unzähliger Menschen.«

Selten ist die Weltökonom­ie mit so scharfem Blick und doch unpathetis­ch dargestell­t worden. Es ist keine Übertreibu­ng: »King Cotton« ist ein Meilenstei­n in der kritischen Sachbuchli­teratur.

Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgesc­hichte des Kapitalism­us. C.H. Beck. 525 S., geb., 29,95 €.

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