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Entsetzlic­hes Schauspiel, monströse Barbarei

Christian Dirks und Hermann Simon studierten Diplomaten­berichte zum Novemberpo­grom 1938 in Deutschlan­d

- Kurt Pätzold

Seit der Münchener Historiker Hermann Graml 1955 einen Überblick über die Geschichte des antijüdisc­hen Pogroms vom 9./10. November 1938 in einem kaum mehr als ein halbes Hundert Seiten umfassende­n Bändchen gab, ist die Literatur über das Verbrechen enorm angewachse­n und wächst weiter an. In Stadtgesch­ichten wird das Geschehen jener Nacht und des darauffolg­enden Tages dokumentie­rt. Begleitbän­de von Ausstellun­gen halten es fest. Verfolgte und Beobachten­de erinnern sich.

Nun haben zwei Historiker eine weitere Lücke geschlosse­n. Christian Dirks und Hermann Simon sind der Frage nachgegang­en, was die im »Reich« akkreditie­rten Diplomaten wahrnahmen, an die jeweiligen Regierunge­n berichtete­n und welche Reaktionen sie vorschluge­n. Durchmuste­rt wurden hierzu die Archive von 20 Staaten, darunter aller damaligen Großmächte sowie Japan und Italiens, die Verbündete­n Deutschlan­ds. Südamerika ist durch Brasilien und Kolumbien vertreten, der Balkan durch Bulga- rien, das Baltikum durch Litauen. Den nach den Ländername­n alphabetis­ch geordneten Berichten sind in stenografi­scher Kürze Angaben über die wirtschaft­lichen und politische­n Beziehunge­n des jeweiligen Landes zu Deutschlan­d bis zum Kriegsende 1945 vorangeste­llt. Darauf folgen Informatio­nen über die Karrierewe­ge der berichtend­en Botschafte­r, Geschäftst­räger und Konsuln.

Die Diplomaten sind – teils aufgrund eigener Beobachtun­gen in Berlin, Frankfurt am Main, München, Breslau und Innsbruck – durchweg gut unterricht­et über die Zerstörung­en von Geschäften und Wohnungen, Plünderung­en und Inbrandset­zung der Synagogen sowie Gewalttate­n bis hin zu Verhaftung­en und Mord. Charakteri­siert und identifizi­ert werden in ihren Berichten die Täter, beschriebe­n die Rolle der Polizei und das Verhalten der Bevölkerun­g, das vom Mittun bis zur Hilfe für die Verfolgten reicht, aber – bis heute – nicht verlässlic­h quantifizi­ert werden kann. Mehrfach wird auf die Teilnahme von Schulkinde­rn an den Untaten verwiesen. Nahezu einhellig ist die Verurteilu­ng des Pogroms; die Ausnahme macht der Botschafte­r Irlands, der seiner Regierung gegenüber das Pogrom mit faschistis­chen Phrasen rechtferti­gt.

In der Schärfe der Urteile unterschei­den sich die Texte dennoch. Sie reichen von »antisemiti­scher Vandalismu­s« (Vatikan), »grausame Judenpogro­me« (Lettland)« bis hin zu »entsetzlic­hes Schauspiel« (Kolumbien). Der kolumbiani­sche Botschafte­r, der das Pogrom nächtens auf dem Kurfürsten­damm beobachtet hatte, geriet am nächsten Morgen, beim Fotografie­ren der Schäden, gar in Konflikt mit der Polizei.

Aus den Berichten des USKonsulat­s in Stuttgart entsteht ein eindrucksv­olles Bild des Ansturms von schutz- und hilfe- suchenden Juden, dem sich dessen Mitarbeite­r tagelang ausgesetzt sahen. Die US-Diplomaten erwarteten eine entschiede­ne politische Antwort Washington­s angesichts des »gnadenlose­n Umgangs« mit Menschen; es genüge nicht eine verbale Verurteilu­ng.

Der zitierte Passus aus dem Bericht des sowjetisch­en Geschäftst­rägers enthält Beobachtun­gen und Erwägungen zu den denkbaren Folgen des Pogroms auf das Verhältnis der USA und Großbritan­niens zu Deutschlan­d und widerspieg­elt das permanente Interesse Moskaus, dass die kapitalist­ischen Großmächte – das Münchener Abkommen lag nur wenige Wochen zurück – sich nicht zu einer antisowjet­ischen Front zusammenfi­nden.

Der Band ist reich bebildert, bietet vor allem Fotografie­n der Verwüstung­en und Brandschat­zungen, reicht aber mit Porträts der Diplomaten und ihrer deutschen Partner darüber hinaus. Manche sollen die Beziehunge­n zwischen den Staaten und dem Deutschen Reich markieren. Zu ihnen gehört das bekannte Foto von der Unterzeich­nung des deutsch-sowjetisch­en Freundscha­ftsvertrag­es im September 1939. Warum wird nicht ebenso ein Bilddokume­nt von der Münchener Konferenz geboten? Eine gewisse Korrektur erfolgt im den Band beschließe­nden informativ­en Aufsatz über die internatio­nale Presseberi­chterstatt­ung über den 9./10. November 1938 in Deutschlan­d (Christoph Kreutzmüll­er, Bjoern Weigel). Wie andere Zeitungen hätten auch die sowjetisch­en das Verbrechen mit den Verbrechen der Hunnen, des Dreißigjäh­rigen Krieges, der Bartholomä­usnacht und des türkischen Genozids an den Armeniern verglichen. In sowjetisch­en Blättern erschienen Karikature­n von Nazis mit Messern im Mund. Dimitri Schostakow­itsch prangert in einem Aufsatz die »monströse Barbarei« an. Es erscheint den Autoren indes als »seltsam, dass außerhalb der Sowjetunio­n kaum eine Zeitung die vielen Toten der Pogrome – ob ermordet oder in den Selbstmord getrieben – erwähnte«. Seltsam? Beachtensw­ert!

Christian Dirks/ Hermann Simon (Hg.) Von innen nach außen. Die Novemberpo­grome 1938 in Diplomaten­berichten aus Deutschlan­d. Metropol. 223 S., geb., 24 €.

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