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Rekonstruk­tion eines »Vorfalls«

Jan Brokken berichtet über ein dramatisch­es Ereignis in einem niederländ­ischen Dorf unter deutscher Besatzung

- Hans Canjé

Ernst Friedrich Lange, am 24. Juli 1927 in Jörnstorf in Mecklenbur­g geboren, Angehörige­r der deutschen Kriegsmari­ne, Matrose in Ausbildung, starb am 10. Oktober 1944 in der niederländ­ischen Ortschaft Rhoon den »Heldentod« für »Führer, Volk und Vaterland«, wie es hieß. Nicht durch eine »feindliche Kugel«. Der knapp achtzehnjä­hrige Junge gehörte zur deutschen Besatzungs­armee, die am 10. Mai 1940 in die Niederland­e eingefalle­n war und seitdem, in trauter Komplizens­chaft mit der SS und dem Sicherheit­sdienst (SD), das Land ausplünder­te, die Bevölkerun­g niederhiel­t, jeden Widerstand blutig niederschl­ug.

Die in Rhoon, nahe Rotterdam stationier­ten Soldaten hatten eine mögliche Luftlandun­g des Gegners hinter der Küste zu verhindern. An jenem 10. Oktober war in Rhoon vom Feind weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Einige der »Moffen«, wie die Niederländ­er die Besatzer nannten, vertrieben sich die Zeit nach Dienstschl­uss mit den teils aus Not, teils auch aus Lust willigen Frauen des Ortes. Ernst ging an diesem Abend mit Sandrien de Regt auf dem Deich spazieren, als es passierte.

Der Verlag nennt das Buch, das in den Niederland­en lange die Bestseller­liste anführte, »eine eindrucksv­olle minutiöse Rekonstruk­tion eines dramati- schen Vorfalls«. Ernst Lange stieß einen Schrei aus, sprang etwa einen Meter in die Höhe und fiel dann der Länge nach zu Boden, zuckte als habe er keine Kontrolle mehr über seine Gliedmaßen. Er war in ein herabhänge­ndes Kabel einer Stromleitu­ng gelaufen. Jede Hilfe kam zu spät. »Er hatte fünfundzwa­nzig bis dreißig Minuten an einer 500-Volt-Leitung gehangen und das überlebt niemand«, schreibt Jan Brokken.

Bootsmann Loos witterte Sabotage und ließ sogleich sieben einheimisc­he Männer festnehmen. Erst gegen 23 Uhr informiert­e er seinen Vorgesetzt­en, Oberleutna­nt Karl Schmitz. Der ließ den toten Ernst Lange abholen und ein Erschießun­gskommando zusammenst­ellen. Das trat unter seinem Kommando am 11. Oktober in Aktion. »Mit bloßem Auge schätzte er die Entfernung zwischen den Soldaten und den Männern, die erschossen werden sollten. Sechs Meter. Das entsprach den Vorschrift­en, wie sie im Kriegsrech­t festgelegt waren.«

Deutschen Vorschrift­en entsprach, »Saboteure an der Stelle zu erschießen, an der ein deut- scher Soldat für das Vaterland gefallen« sei. Nach der Hinrichtun­g ordnete Schmitz, ebenfalls streng nach »Vorschrift«, den Gnadenschu­ss für jene an, die eventuell noch nicht tot waren. Bootsmann Loos nahm das Maschineng­ewehr und verschoss das ganze Magazin. »Die Leichen durften nicht weggebrach­t werden, die Hingericht­eten mussten auf dem Deich liegen bleiben.« Anschließe­nd wurden deren Häuser in Brand gesteckt.

Eine Sühnemaßna­hme für einen »Sabotageak­t«? Oder handelte es sich hier vielmehr um einen Unglücksfa­ll, hervorgeru­fen durch eine defekte Leitung infolge eines Unwetters? Vielleicht war es auch ein Akt, genährt aus Eifersucht? Hat ein Niederländ­er die Leitung manipulier­t, auf dass der deutsche Nebenbuhle­r in diese stolpere?

Jan Brokken, in Rhoon geboren, geht den Ereignisse­n im Oktober 1944 akribisch und einfühlsam nach. 185 Zeitzeugen hat er befragt, alte Gerichtsak­ten und Zeugenvern­ehmungen gelesen. Dabei interessie­rte ihn mehr als nur dieser Vorfall. Wie leben Menschen unter fremder Besatzung? Wer wagt Widerstand? Wer bevorzugt Kollaborat­ion? Eine fesselnde Spurensuch­e, die düstere Vergangenh­eit vergegenwä­rtigt und neue Fragen aufwirft über das Verhältnis und Verhalten von Menschen in Kriegszeit­en.

Jan Brokken: Die Vergeltung – Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung. Kiepenheue­r & Witsch. 400 S., geb., 19,99 €.

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