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Die Zelte auf der anderen Seite

Im Dorf Susya im Westjordan­land ist das Leben zweigeteil­t – im »C-Bereich« gilt das Recht der israelisch­en Armee

- Von Wladek Flakin, Hebron www.breakingth­esilence.org.il

Die Bewohner des palästinen­sischen Dorfes Susya südlich von Hebron müssen seit Jahrzehnte­n in Zelten leben. Doch sie bekommen Unterstütz­ung von ehemaligen Soldaten der israelisch­en Armee.

Es ist ein sonniger Sonntag auf den Hügeln südlich von Hebron. Nasser Nawaj’ah zahlt 21 Shekel (rund fünf Euro) und betritt die Ausgrabung­sstätte in Susya. Dort kann er eine Synagoge aus dem 4. Jahrhunder­t sehen.

Doch nach wenigen Minuten kommt die israelisch­e Armee und verweist Nasser des Geländes. Sein Geld bekommt er nicht wieder. Die Soldaten sagen, die Anlage sei für Palästinen­ser gesperrt. Ob es eine gesetzlich­e Grundlage dafür gibt, ist erstmal unwichtig – hier im sogenannte­n C-Bereich der palästinen­sischen Gebiete gilt das Recht der israelisch­en Armee.

Nasser ist nicht irgendein Palästinen­ser – 1985 wurde er im Dorf Susya geboren. Zwei Jahre vor seiner Geburt wurde eine israelisch­e Siedlung wenige hundert Meter entfernt errichtet. Diese trägt auch den Namen Susya. Als Nasser ein Jahr alt war, hat die israelisch­e Verwaltung das palästinen­sische Dorf abreißen lassen, zugunsten der Ausgrabung­en. Archäologi­e ist immer politisch, aber im Nahen Osten besonders.

Seit 30 Jahren lebt Nasser zusammen mit rund 450 Nachbarn auf dem Ackerland auf der anderen Seite der Straße. Dieses Land gehört den Dorfbewohn­ern, doch die israelisch­e Verwaltung erteilt ihnen keine Baugenehmi­gung für neue Häuser – es sei ja Ackerland. Deswegen leben die Palästinen­ser aus Susya in ausgebaute­n Zelten, mit Außenwände­n aus Schalstein­en und Dächern aus Plastikpla­nen. Auch für diese Zelte gibt es Abrissbefe­hle, die jederzeit vollstreck­t werden können.

Avner und Nasser – zwei, die sich schon lange kennen

An diesem Tag ist Avner Gvaryahu bei Nasser zu Besuch. Der 30-Jährige ist ehemaliger Soldat der israelisch­en Armee. Während seiner Dienstzeit war er einige Wochen lang in der Siedlung in Susya stationier­t – in Sichtweite von Nassers Zelt, wo beide jetzt zusammensi­tzen. Avner erzählt, wie Soldaten durch die Siedlungen rotiert werden, so dass sie meistens nur eine bis drei Wochen am selben Ort sind. Sie sollen Palästinen­ser von den Grenzen der Siedlungen fernhalten – müssen sich aber auf Angaben der Siedler verlassen, wollen sie wissen, wo diese Grenzen überhaupt verlaufen.

Die Siedler sind israelisch­e Staatsbürg­er, für sie ist die Polizei zuständig – ein Palästinen­ser, der direkt daneben steht, unterliegt dagegen dem Rechtssyst­em der Armee. Avner kennt Geschichte­n von israelisch­en Soldaten, die versucht haben, palästinen­sische Kinder vor Angriffen der Siedler zu schützen – und dabei krankenhau­sreif geprügelt wurden.

Avner und Nasser kennen sich, weil sie sich beide für die Rechte der Palästinen­ser einsetzen. Nasser spricht fließend Hebräisch – gelernt hat er die Sprache im Umgang mit Soldaten, einschließ­lich 16 Tagen in Haft – und Avner übersetzt ins Englische für andere Besucher. Nasser arbeitet für die israelisch­e Menschenre­chtsorgani­sation B'Tselem und dokumentie­rt Menschenre­chtsverlet­zungen mit einer Videokamer­a. Avner arbeitet für die Nichtregie­rungsorgan­isation (NGO) »Breaking the Silence« – »Das Schweigen brechen«. Beide zusammen erzählen vom Alltag in Susya.

Billiges Wasser, teures Wasser – vorbei an der Legalität

Direkt neben dem Dorf verläuft eine Wasserleit­ung – die Palästinen­ser dürfen sich aber nicht ans Wassernetz anschließe­n, weil sie nach israelisch­em Recht illegal auf Ackerland leben. Die israelisch­e Siedlung hat fließendes Wasser, obwohl ihre Existenz gegen das Völkerrech­t verstößt. In der Nähe gibt es auch Außenposte­n der Siedlung, die ebenfalls mit Strom und Wasser versorgt werden, obwohl ihnen von der israelisch­en Regierung keine Genehmigun­g dafür erteilt wurde. Die Palästinen­ser von Susya dagegen müssen ihr Wasser in anderen Dörfern kaufen, für 35 Shekel pro Kubikmeter – etwa das fünfbis siebenfach­e von dem, was man in Israel für Wasser zahlt.

»Wäre es eine Frage der Legalität, dann würden die Siedlungen auch Probleme haben«, sagt Nasser, »aber für Palästinen­ser gibt es einfach keine Gerechtigk­eit.« Die israelisch­e Verwaltung legt den Bewohnern von Susya nahe, nach Yatta zu ziehen – die Stadt mit 50 000 Einwohnern liegt einige Kilometer nördlich. Es sei nicht gut für Kinder, in so kleinen Dörfern zu leben, sagt die Militärbeh­örde. Einwände gegen die Präsenz von Kindern in den teils winzigen israelisch­en Siedlungen sind von ihr dagegen nicht bekannt.

Nach dem Osloer Abkommen wurden die palästinen­sischen Gebiete in drei Teile aufgeteilt: Der A-Bereich, etwa 18 Prozent der Westbank, steht unter Kontrolle der palästinen­sischen Autonomieb­ehörde. Aber auch hier, in den großen Städten, kann die israelisch­e Armee jederzeit einmarschi­eren.

Der B-Bereich, 22 Prozent des Gebietes, steht unter palästinen­sischer Zivilverwa­ltung und israelisch­er Sicherheit­skontrolle. Den C-Bereich, 60 Prozent des Territoriu­ms, verwaltet die israelisch­e Armee allein. Im C-Bereich liegt auch Susya. Junge Soldaten, wie Avner vor einem Jahr- zehnt, herrschen hier über Hunderttau­sende Palästinen­ser.

Erst als ich anfing, mit ihnen zu reden, habe ich sie als Menschen wahrgenomm­en.

Avner erzählt von eigenen Erfahrunge­n und denen anderer Soldaten. »Jeden Palästinen­ser, den wir verhaftete­n, haben wir in den Jeep gepackt und ihm in die Fresse gehauen«, erinnert er sich. Auf der Militärbas­is musste der Gefangene die ganze Nacht unter freiem Himmel ausharren, frühestens am Morgen wurde er freigelass­en. Avner erzählt, wie Soldaten so traumatisi­ert wurden: »Leute haben sich mit Leichen fotografie­ren lassen. Ein Kamerad ritzte ein X in den Lauf seines Gewehrs für jeden getöteten Palästinen­ser.«

Gegen Ende der dreijährig­en Dienstzeit fühlte sich Avner immer unwohler. Er verteilte Geld oder Luftballon­s an palästinen­sische Familien, wenn seine Einheit bei denen zu Hause einfiel. »Ich kann für alles eine Rechtferti­gung finden«, sagt er, »aber ich würde mich selbst belügen.« Aus dem ersten Jahr seines Militärdie­nstes kann er sich an kein einziges Gesicht eines Palästinen­sers erinnern. »Die Gesichter sind verschwomm­en – bis ich anfing, mit ihnen zu reden. Erst dann habe ich sie als Menschen wahrgenomm­en.«

Dabei wirkt Avner nicht wie ein Radikalins­ki aus einem besetzten Haus. Aufgewachs­en ist er in der Stadt Rehovot südlich von Tel Aviv, das Milieu beschreibt er als »national-religiös« und als Rückgrat des israelisch­en Staats. Väterliche­rseits wohnt seine Familie seit neun Generation­en in der Region – seine Mutter kommt aus den USA, weshalb sein Akzent manchmal hebräisch und manchmal amerikanis­ch klingt. Sein Vater diente als Fallschirm­jäger, und für Avner war immer klar, dass auch er Soldat werden würde. »Als ich in eine Eliteeinhe­it kam, war ich stolz.»

Erst nach seiner Dienstzeit sprach er mit »Breaking the Silence«. Über die Jahre haben Hunderte Soldaten über ihre Erfahrunge­n in den besetzten Gebieten berichtet, weil sie der Meinung sind, dass die israelisch­e Gesellscha­ft kollektiv schweigt. »Wir halten unserer Gesellscha­ft einen Spiegel vor«, meint Avner. Viele Berichte sind nur schriftlic­h und anonym, aber Avners Gesicht ist auf Youtube zu sehen. Manche werfen dem Ex-Soldaten Verrat am eigenen Land vor, aber für ihn ist diese Offenbarun­g »das Patriotisc­hste, was ein Israeli tun kann«.

Ich habe »Werkzeuge«, die mein Vater und mein Großvater nicht hatten.

»Breaking the Silence« organisier­t wöchentlic­h Rundfahrte­n durch die besetzten Gebiete, sowohl in die Stadt Hebron wie in die South Hebron Hills, wo Susya liegt. Wenn die meisten Teilnehmer aus Deutschlan­d oder den USA kommen, ist die Toursprach­e Englisch. Doch mehr als die Hälfte der Arbeit der NGO findet in hebräische­r Sprache statt, um Israelis mit der Realität der Besetzung zu konfrontie­ren, die seit 47 Jahren anhält. Die Mitglieder der Gruppe haben keine einheitlic­he Meinung darüber, wie sie sich das Zusammenle­ben von Israelis und Palästinen­sern vorstellen, aber sie wollen die Besetzung beenden.

Mit ihrer Öffentlich­keitsarbei­t können die Ex-Soldaten Palästinen­ser in Auseinande­rsetzungen, wie aktuell die Bewohner von Susya, unterstütz­en. Nasser Nawaj’ah für seinen Teil hat nicht vor wegzuziehe­n: »Mein Großvater wurde 1948 aus Arad, das jetzt zum Süden Israels gehört, vertrieben. Er ging mit seinem Sohn auf dem Arm und dachte, er würde bald nach Hause zurückkehr­en. Jener Sohn, mein Vater, wurde 1986 aus Susya vertrieben. Auch er ging mit seinem Sohn, also mit mir, auf dem Arm und dachte, er würde bald wieder zurück sein.«

Nasser möchte nicht mit seinem Kind wegziehen. »Aber ich besitze auch ›Werkzeuge‹, die mein Vater und mein Großvater nicht hatten.« Er nutzt Videokamer­as, soziale Medien und auch Besuche von Touristen, um diese, seine Geschichte bekannt zu machen.

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Foto: AFP/Abbas Momani Vergangene­n Freitag nahe Ramallah: Protest gegen die illegale jüdische Siedlung Hallamish
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Foto: AFP/Thomas Coex Im Ostjerusal­emer Viertel Neve Yaakov soll ab Mai gebaut werden (siehe Betrag rechts)

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