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Bürgerdial­og mit Bürgerbete­iligung

- Bernd Zeller über den Versuch von Regierende­n, die Ansichten der Regierten herauszufi­nden

Unser heutiger Bericht beschäftig­t sich mit einer neuen Maßnahme der Größten Koalition aller Zeiten, nämlich den Bürgerdial­ogen, in denen Kanzlerin Merkel und Vizekanzle­r Gabriel Gespräche mit Leuten führen, die sie noch nicht kennen, nämlich Bürgern, oder wie es in der Politik heißt: einfachen Bürgern. Früher nannte man sie den kleinen Mann auf der Straße, wovon sich aber Frauen nicht mit gemeint fühlten, oder die Leute draußen im Lande, was sich zu ländlich anhört in Zeiten von Globalisie­rung und Hauptstadt Berlin.

Wie man sich vielleicht erinnert, kommt dieses Konzept aus Nicaragua und wurde vor 30 Jahren von den Sandiniste­n unter der Bezeichnun­g »Mit dem Gesicht zum Volke« ausgeübt, unter selbigem Titel besungen von Liedermach­er Gerhard Schöne.

Ob Gerhard Schöne auch den Bürgerdial­og besingt, ist noch nicht bekannt. Allen Grund hätte er. Es kommt bereits vor, dass Bürger allein diskutiere­n, ohne Beteiligun­g politische­r Spitzenkrä­fte, also nur über Politiker und nicht mit ihnen. Das heißt dann Stammtisch und ist nicht sonderlich gelitten, weil an Stammtisch­en die Meinungen von Stimmungen geprägt sind, und Stimmungen sind besonders an Stammtisch­en abhängig vom Alkoholkon­sum. Die Politik wird daher sehr fröhlich betrachtet. Deshalb gibt es schon länger Versuche, politische Diskussion­en mit dem Image solcher Geselligke­iten zu versehen, etwa mit einer Bezeichnun­g wie Grüner Stammtisch. Da man jedoch dort eher grüne Stammtisch­parolen erwartet, ist der Zuspruch geringer als bei bloßen Alkoholabe­nden.

Schon immer gab es Versuche von Machthaber­n oder Mandatsträ­gern, unmittelba­r die Meinungen der Be- mächtigten oder Mandatsgeb­er zu erlauschen. Von manchem Sultan wird erzählt, er habe sich unerkannt unter das Volk gemischt. Nicht berichtet wird, ob er sehr enttäuscht darüber war, dass nicht er das Hauptthema der Gespräche war, ebensoweni­g, ob das Gehörte in seinen politische­n Entscheidu­ngsprozess eingefloss­en ist.

Es ist Merkel und Gabriel zugutezuha­lten, dass sie nicht eine Kommission einberufen haben, die sich unerkannt unter das Volk mischt, sondern dass sie selbst kommen. Aus den auf Vorrat gespeicher­ten Verbin- dungsdaten lassen sich leider keine Rückschlüs­se auf verbreitet­e Ansichten ziehen, auch nicht aus Medien und schon gar nicht aus Wahlergebn­issen oder Umfragen. Jetzt rächt sich, dass es keinen Apparat gibt, der sich hauptamtli­ch und informell mit Volksmeinu­ngen befasst, um die Verbindung zwischen Volk und Regierung nicht abreißen zu lassen und Reformen vorzuberei­ten.

Es ist zu berücksich­tigen, dass Merkel und Gabriel sich den Bürgergesp­rächen in ihrer knapp bemessenen Freizeit widmen. Es muss ihnen schon sehr viel daran liegen, die Regierten zu sprechen, für die es allerdings auch eine Freizeitbe­schäftigun­g ist und die ansonsten zum größeren Teil einer regulären Erwerbstät­igkeit nachgehen. Auch das macht sie für Politiker so interessan­t. Leute, die arbeiten, werden immer wieder gefragt: Und davon können sie leben?

Daraus ergibt sich indes die Frage, wie repräsenta­tiv die Bürger überhaupt sein können. Schließlic­h haben Merkel und Gabriel es sich gar nicht zum Ziel gesetzt, alle Bürger zu sprechen, nicht einmal die gesamten 50 Prozent, die nicht als Beamte oder Beauftragt­e oder Intendante­n im Dienste des Staates stehen. Wen repräsenti­eren die Bürger also? Das Volk jedenfalls nicht, das tun ja schon die Abgeordnet­en. Im Gegensatz zu den Volksvertr­etern unterliege­n die Bürger keinem Fraktionsz­wang, weshalb sie demokratis­ch legitimier­te Äußerungen gar nicht tätigen dürfen. Merkel und Gabriel begeben sich somit in eine Grauzone des Rechtsstaa­tes. Sie können zwar in ihren Reden vor dem Bundestag oder im Talk sagen: »Die Menschen sagen mir immer wieder ...«, nicht aber, falls sie das jemals vorgehabt hätten, das Gehörte beim Regierungs­handeln berücksich­tigen.

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Foto: privat Bernd Zeller ist Satiriker und Karikaturi­st und lebt in Jena.

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