Krisenanalyse ohne Scheuklappen
Jahrbuch 2015 des Netzwerkes transform! über Europa
Wie weiter mit Europa? Und welche Rolle können linke Kräfte in einer EU am Scheideweg übernehmen? Diesen Fragen stellten sich linke Wissenschaftler.
Dass die Europäische Union derzeit einem Großteil der »europäischen Bürger« keinesfalls als attraktives Zukunftsmodell erscheint, ist kein Geheimnis. Gefühlte Heerscharen von Wissenschaftlern, Politologen und Journalisten haben sich mit Ursachen und Erscheinungsformen der aktuellen wirtschaftlichen, politischen und administrativen Krise beschäftigt. Braucht es da noch eine weitere Analyse zentrifugaler und zentripetaler Tendenzen in Europa?
Es braucht sie, und der linke europäische Thinktank transform! hat sie mit dem Jahrbuch 2015 unter dem Titel »Vereintes Europa. Geteiltes Europa« vorgelegt. Gut zwei Dutzend Autorinnen und Autoren geben ihre Sicht auf das aktuelle Europa wieder – und auf dessen Zukunft. Gerade dieser Punkt ist wichtig, bleiben doch viele Analysen zur aktuellen Krise bei einer bloßen Bestandsaufnahme stehen. Dass mit Alexis Tsipras nicht nur der Vorsitzende der griechischen Linkspartei SYRIZA, sondern zugleich der heutige Athener Regierungschef als »Praktiker« das Auftaktinterview des Sammelbandes bestreitet, ist sicher ein Glücksfall.
Zudem: Viele Untersuchungen zum Zustand Europas bestärken die erwartbaren Positionen des Herausgebers. Es ist das Verdienst von Walter Baier, Bernhard Müller und Eva Himmelstoss, den im Vorwort formulierten Anspruch, die Brüche in Europa und deren Folgen aus unterschiedlichen Positionen darzustellen, tatsächlich umzusetzen. Gelingen konnte das nur mit einer großen Bandbreite von Autorinnen und Autoren, die nicht auf den Kreis der »üblichen Verdächtigen« beschränkt bleibt. Gerade die Einbeziehung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Skandinavien und vor allem Osteuropa, das auch in der linksorientierten Europaforschung ein Schattendasein fristet, hebt sich von der Südwesteuropa-Fixierung ab.
Damit ist es möglich, alle drei Hauptteile des Sammelbandes mit profunden Analysen zu bestücken. In den als Essays bezeichneten Überblickstexten geht es u. a. um Europa und die Nationalstaaten (von einer Rückkehr zu einem vor-föderalen Europa träumen rechts- wie linksgerichtete Nationalisten, E. Balibar), um nationale Frage und Integration (die EU hat die Widersprüche von den Schlachtfeldern in Brüsseler Konferenzräume verlegt, W. Baier) oder auch Rechtspopulismus und -extremismus in Europa (die Linke muss Demobilisierung ihrer potenziellen WählerInnen mit neuer Ambition begegnen, F. Deppe).
In einem zweiten Teil werden die Spaltungen in Europa näher untersucht und Handlungsoptionen für Linkskräfte aufgezeigt (politische Einheit der progressiven Kräfte ist heute eine Grundvoraussetzung zur Veränderung, P. Cohen-Séat). Nicht zuletzt werden im dritten Teil die Ergebnisse der Europawahlen vom Mai vergangenen Jahres aufgearbeitet – und zwar nicht nur in den westeuropäischen EU-»Kernländern«, sondern auch in Osteuropa.