»Wir sind doch auch Zivilbevölkerung«
Das Hamburger Kunstprojekt »Ecofavela« verschaffte einigen Lampedusa-Flüchtlingen ein Winterquartier und mehr Bewegungsfreiheit – im Mai geht es nun zu Ende
Im Sommer diente der Raum als Spielstätte, dann war er Winterquartier für Flüchtlinge der sogenannten »Lampedusa-Gruppe«: ein Holzbau im Garten der Theaterfabrik Kampnagel in Hamburg.
»Flüchtlinge willkommen« lädt ein Plakat am hölzernen Nachbau der Roten Flora auf dem Gelände des Hamburger Kunst- und Kulturzentrums Kampnagel ein. Es fordert zugleich auf, »das Schweigen schnell zu brechen«. Beide Ziele wurden im Rahmen des Projekts »Ecofavela Lampedusa Nord« – es versteht sich als temporärer Kunstraum – auch erreicht.
Fünf Monate lang war der von der Künstlergruppe »Baltic Raw« winterfest gemachte Holzbau in Hamburgs Schanzenviertel das Quartier für zunächst fünf Flüchtlinge, die im italienischen Lampedusa angelandet waren. Menschen, die sich seit zwei Jahren in Hamburg zwischen den Stüh- len der Asylbürokratie verlieren. Zugleich habe das Projekt »die Aufmerksamkeit für die Lage der Flüchtlinge erhöht und den Diskurs insgesamt verändert«, stellt befriedigt Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard gegenüber »nd« fest. Anwohner beteiligten sich mit Spenden. In ganz Hamburg gab es eine Solidaritätswelle. Eine Anzeige der AfD wegen angeblicher Verwendung von Steuermitteln für illegale Zwecke verstärkte die Solidarität noch. Und die Flüchtlinge selbst genossen im Rahmen des Kunstprojekts größere Bewegungsfreiheit.
»Wir konnten uns hier frei bewegen und fühlen uns als Menschen auch ernst genommen«, erzählt Ali. Der in Ghana geborene Sohn einer Familie aus Mali sitzt an seiner Nähmaschine und repariert ein Hemd. Bevor er mehrere Jahre als Gastarbeiter in Libyen war und dann durch den Krieg zur Flucht gedrängt wurde, hat er Schneider gelernt. Die Künstlergruppe »Baltic Raw« besorgte ihm die Näh- maschine, und so übt er jetzt im Nachbau der Roten Flora seinen alten Beruf aus. Hauptprodukt sind Taschen, die er aus gewachstem Stoff, der mit westafrikanischen Motiven versehen ist, herstellt. »Die Taschen sind wirklich sehr begehrt. Bei Ali könnte ich mir vorstellen, dass er damit auch seinen Lebensunterhalt verdient«, meint Moka Farkas, Mitglied von »Baltic Raw«.
Daran hindern Ali momentan aber zwei Dinge. Künftig fehlt ein Raum zum Arbeiten – denn das Projekt »Ecofavela« läuft Anfang Mai aus. »Die Befristung war von Beginn an klar. Das geht schon so in Ordnung«, sagt Ali. Gewichtigerer Hinderungsgrund ist die Anerkennung als Flüchtling und eine Erlaubnis zum Arbeiten. Die hat Ali paradoxerweise – und er hat sie wieder nicht.
»Nachdem wir zwei Jahre in einem Aufnahmelager in Norditalien waren, sagten sie uns da plötzlich: ›Hier habt ihr Papiere. Euer Vertrag hier ist ausgelaufen. Geht jetzt.‹« Ali verließ mit anderen das Lager und kam nach längerer Arbeitssuche mitten durch Westeuropa schließlich nach Hamburg. »Hier werden unsere in Italien ausgestellten Papiere aber nicht akzeptiert. Wir sollen ein neues Asyl- verfahren durchlaufen, obwohl wir in Italien doch anerkannt sind. Was ist das nur für ein Europa, das sagt, dass es einig ist, in dem dann aber die Papiere des einen für die anderen nicht gelten?«, fragt er. Und noch eine Klage an Europa erhebt er: »Uns ging es als Gastarbeitern in Libyen verhältnismäßig gut. Dann hat Europa den Krieg gegen Gadaffi begonnen und dabei gesagt, es will die Zivilbevölkerung schonen. Aber wir sind doch auch Zivilbevölkerung. Wir mussten aus Libyen fliehen, dabei die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer wagen und werden jetzt daran gehindert, das zu tun, was wir eigentlich wollen: arbeiten und unser Leben leben.«
Die »Ecofavela«, eine spartanische Unterkunft im Energiesparmodus mit Regenwasseraufbereitung, hat ihm wie auch seinen Mitbewohnern über fünf Monate die Möglichkeit gegeben, neue Wege für ein neues Leben auszuprobieren. Eine Mitbewohnerin hat ein Catering aufgebaut. Ein Mitbewohner malte im Stile westafrikanischer Plakatmaler Transparente und Theaterplakate, die auch beim Kunstund Kulturzentrum Kampnagel selbst Verwendung fanden.
Das Projekt hat an den grundlegenden Bedingungen für Flüchtlinge selbst nichts ändern können. Die rotgrüne Senatskoalition in Hamburg will nicht die gesamte Gruppe der etwa 300 Lampedusa-Flüchtlinge aner- kennen, sondern beharrt weiter auf Einzelfallprüfungen – trotz der in Italien ausgestellten Papiere. »Ecofavela« löst auch nicht das Unterbringungsproblem. Das wäre für ein Kunstprojekt auch reichlich viel verlangt. Aber aus den nüchternen Ziffern von Flüchtlingsstatistiken haben sich Menschen herauskristallisiert, Menschen mit Anliegen, Wünschen und Fähigkeiten.
»Mit dem Thema werden wir uns in Zukunft weiterbeschäftigen, auch wenn dieses eine Projekt jetzt beendet wird«, verspricht Deuflhard. Und Moka Farkas, die Initiatorin von »Baltic Raw«, die selbst vor 30 Jahren aus Ungarn in die Bundesrepublik kam, hat in den fast täglichen Begegnungen mit Ali und den anderen »ein Leben jenseits unserer Komfortzonen« kennengelernt, »das für uns als Gesellschaft beschämend ist«, sagt sie. »Eines Tages«, so sagt sie, »werden wir uns für das, was heute mit den Flüchtlingen passiert, vor unseren Kindern schämen müssen.«
Das Projekt hat an den grundlegenden Bedingungen für Flüchtlinge selbst nichts ändern können.