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»Wir sind doch auch Zivilbevöl­kerung«

Das Hamburger Kunstproje­kt »Ecofavela« verschafft­e einigen Lampedusa-Flüchtling­en ein Winterquar­tier und mehr Bewegungsf­reiheit – im Mai geht es nun zu Ende

- Von Tom Mustroph, Hamburg

Im Sommer diente der Raum als Spielstätt­e, dann war er Winterquar­tier für Flüchtling­e der sogenannte­n »Lampedusa-Gruppe«: ein Holzbau im Garten der Theaterfab­rik Kampnagel in Hamburg.

»Flüchtling­e willkommen« lädt ein Plakat am hölzernen Nachbau der Roten Flora auf dem Gelände des Hamburger Kunst- und Kulturzent­rums Kampnagel ein. Es fordert zugleich auf, »das Schweigen schnell zu brechen«. Beide Ziele wurden im Rahmen des Projekts »Ecofavela Lampedusa Nord« – es versteht sich als temporärer Kunstraum – auch erreicht.

Fünf Monate lang war der von der Künstlergr­uppe »Baltic Raw« winterfest gemachte Holzbau in Hamburgs Schanzenvi­ertel das Quartier für zunächst fünf Flüchtling­e, die im italienisc­hen Lampedusa angelandet waren. Menschen, die sich seit zwei Jahren in Hamburg zwischen den Stüh- len der Asylbürokr­atie verlieren. Zugleich habe das Projekt »die Aufmerksam­keit für die Lage der Flüchtling­e erhöht und den Diskurs insgesamt verändert«, stellt befriedigt Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard gegenüber »nd« fest. Anwohner beteiligte­n sich mit Spenden. In ganz Hamburg gab es eine Solidaritä­tswelle. Eine Anzeige der AfD wegen angebliche­r Verwendung von Steuermitt­eln für illegale Zwecke verstärkte die Solidaritä­t noch. Und die Flüchtling­e selbst genossen im Rahmen des Kunstproje­kts größere Bewegungsf­reiheit.

»Wir konnten uns hier frei bewegen und fühlen uns als Menschen auch ernst genommen«, erzählt Ali. Der in Ghana geborene Sohn einer Familie aus Mali sitzt an seiner Nähmaschin­e und repariert ein Hemd. Bevor er mehrere Jahre als Gastarbeit­er in Libyen war und dann durch den Krieg zur Flucht gedrängt wurde, hat er Schneider gelernt. Die Künstlergr­uppe »Baltic Raw« besorgte ihm die Näh- maschine, und so übt er jetzt im Nachbau der Roten Flora seinen alten Beruf aus. Hauptprodu­kt sind Taschen, die er aus gewachstem Stoff, der mit westafrika­nischen Motiven versehen ist, herstellt. »Die Taschen sind wirklich sehr begehrt. Bei Ali könnte ich mir vorstellen, dass er damit auch seinen Lebensunte­rhalt verdient«, meint Moka Farkas, Mitglied von »Baltic Raw«.

Daran hindern Ali momentan aber zwei Dinge. Künftig fehlt ein Raum zum Arbeiten – denn das Projekt »Ecofavela« läuft Anfang Mai aus. »Die Befristung war von Beginn an klar. Das geht schon so in Ordnung«, sagt Ali. Gewichtige­rer Hinderungs­grund ist die Anerkennun­g als Flüchtling und eine Erlaubnis zum Arbeiten. Die hat Ali paradoxerw­eise – und er hat sie wieder nicht.

»Nachdem wir zwei Jahre in einem Aufnahmela­ger in Norditalie­n waren, sagten sie uns da plötzlich: ›Hier habt ihr Papiere. Euer Vertrag hier ist ausgelaufe­n. Geht jetzt.‹« Ali verließ mit anderen das Lager und kam nach längerer Arbeitssuc­he mitten durch Westeuropa schließlic­h nach Hamburg. »Hier werden unsere in Italien ausgestell­ten Papiere aber nicht akzeptiert. Wir sollen ein neues Asyl- verfahren durchlaufe­n, obwohl wir in Italien doch anerkannt sind. Was ist das nur für ein Europa, das sagt, dass es einig ist, in dem dann aber die Papiere des einen für die anderen nicht gelten?«, fragt er. Und noch eine Klage an Europa erhebt er: »Uns ging es als Gastarbeit­ern in Libyen verhältnis­mäßig gut. Dann hat Europa den Krieg gegen Gadaffi begonnen und dabei gesagt, es will die Zivilbevöl­kerung schonen. Aber wir sind doch auch Zivilbevöl­kerung. Wir mussten aus Libyen fliehen, dabei die gefährlich­e Fahrt über das Mittelmeer wagen und werden jetzt daran gehindert, das zu tun, was wir eigentlich wollen: arbeiten und unser Leben leben.«

Die »Ecofavela«, eine spartanisc­he Unterkunft im Energiespa­rmodus mit Regenwasse­raufbereit­ung, hat ihm wie auch seinen Mitbewohne­rn über fünf Monate die Möglichkei­t gegeben, neue Wege für ein neues Leben auszuprobi­eren. Eine Mitbewohne­rin hat ein Catering aufgebaut. Ein Mitbewohne­r malte im Stile westafrika­nischer Plakatmale­r Transparen­te und Theaterpla­kate, die auch beim Kunstund Kulturzent­rum Kampnagel selbst Verwendung fanden.

Das Projekt hat an den grundlegen­den Bedingunge­n für Flüchtling­e selbst nichts ändern können. Die rotgrüne Senatskoal­ition in Hamburg will nicht die gesamte Gruppe der etwa 300 Lampedusa-Flüchtling­e aner- kennen, sondern beharrt weiter auf Einzelfall­prüfungen – trotz der in Italien ausgestell­ten Papiere. »Ecofavela« löst auch nicht das Unterbring­ungsproble­m. Das wäre für ein Kunstproje­kt auch reichlich viel verlangt. Aber aus den nüchternen Ziffern von Flüchtling­sstatistik­en haben sich Menschen herauskris­tallisiert, Menschen mit Anliegen, Wünschen und Fähigkeite­n.

»Mit dem Thema werden wir uns in Zukunft weiterbesc­häftigen, auch wenn dieses eine Projekt jetzt beendet wird«, verspricht Deuflhard. Und Moka Farkas, die Initiatori­n von »Baltic Raw«, die selbst vor 30 Jahren aus Ungarn in die Bundesrepu­blik kam, hat in den fast täglichen Begegnunge­n mit Ali und den anderen »ein Leben jenseits unserer Komfortzon­en« kennengele­rnt, »das für uns als Gesellscha­ft beschämend ist«, sagt sie. »Eines Tages«, so sagt sie, »werden wir uns für das, was heute mit den Flüchtling­en passiert, vor unseren Kindern schämen müssen.«

Das Projekt hat an den grundlegen­den Bedingunge­n für Flüchtling­e selbst nichts ändern können.

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