Wüste ohne Durst
Komische Oper Berlin: Barrie Kosky inszenierte Schönbergs Opernfragment »Moses und Aron«
Was bringt diese Inszenierung Neues? Gemacht wurde sie von Barrie Kosky, dem Intendanten und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, die soeben mit dem International Opera Award 2015 als bestes Opernensemble ausgezeichnet worden ist. Zunächst: Sie bringt Neues! Kosky ist fraglos ein hochkluger, vom Theater geradezu besessener Künstler. Der denkt nach, bevor er Szenen baut. Der weiß um die Hintergründe von Oper und Musik. Kosky erlaubt seinen Mitstreitern Eigensinn und versteht es phantastisch, sie zu motivieren und zu Höchstleistungen zu bringen. Vorzug genauso und geradezu Voraussetzung, eine Oper wie »Moses und Aron« auf die Bühne zu bringen: Kosky kennt sich auch in komplizierten musikalischen Fragen aus.
Nach Bernd Alois Zimmermanns »Die Soldaten« nach Lenz (Inszenierung Calixto Bieito) nun Arnold Schönbergs zweiaktige Bekenntnisoper »Moses und Aron« nach eigenem Libretto. Ein gewaltiges Kunstwerk, Fragment geblieben – es fehlt die Musik des dritten Akts –, das zu entschlüsseln und auf die Bühne zu bringen hohe, vor allem geistige Anforderungen stellt. Moses und Aron, die Brüder, sind darin Gegenprinzipien. Aber die Dinge liegen weit komplizierter: Moses versteht sich als Heils- und Gebotebringer wie als Gotteserklärer, dem die Worte fehlen. Aron hingegen fungiert als sein Sprachrohr. Beiden gegenüber agiert die Masse, die beraten und geführt werden, die Gott verstehen, berühren, mit ihm reden will. Jüdisches Volk, den Ägyptern entkommen, das, in die Wüste verschlagen, nach Freiheit ruft, sich aber zeitweise darum betrogen fühlt und zornig wird. Volk, das Moses so sehr vertraut wie misstraut, uneins und verführbar, so dass Aron leichtes Spiel hat, ihm goldene Verzückungen vorzugaukeln, und den berühmten »Tanz ums goldene Kalb« im zweiten Akt lanciert.
Solche goldglänzenden, lustvollen Verirrungen wuchern, weil das Brüderpaar selber den rechten Weg nicht kennt. Schönberg ging es um die Einheit des Judenvolks, erreichbar über Formen des talmudischen Disputs, des Streits darüber, eine Einheit, die scheitert. Der Gedanke aber, intendiert die Oper, müsse lebendig bleiben. Ein positives Werk also.
Es entstand in den Jahren vor 1933. Klar ist sein Hintergrund. Schönberg, früh vom Judentum zum Protestantismus mutiert, rekonver- tierte 1933. Aus Protest. So gesehen, ist die Oper eine Form, sich gegen den heraufkommenden Faschismus zu stellen. Die Gaskammern liegen noch in der Ferne.
Dem Bruderpaar heftet Kosky magische, clownesk circensische Züge an. Er lässt sie denn auch so kleiden und stolzieren und bemüht dabei Worte Estragons und Wladimirs aus Becketts »Warten auf Godot«: Estragon: »Wir finden doch immer was, um uns einzureden, dass wir existieren.« Wladimir: »Ja, ja. Wir sind Zauberer.« Wortmaterial, das, damit die Leute sich nicht wundern, vorweg dadaistisch auf die Leinwand projiziert wird. Die Zauberei mit dem Stab, den Aron dem Bruder tief hinein in Maul und Ohr steckt, die Feuer entfacht und aus Wasser Blut macht, huscht ein ums andere Mal durch den ersten Akt.
Moses, alt und klapprig, spricht, statt zu singen. Wo die Unklarheit sich regt, klappt sein Maul nur, wo sich ihm doch Worte entringen müssten. Robert Hayward, bedeutend seine Auftritte, artikuliert häufig gegen die Sprechstimmenmelodik, wie sie die Partitur fixiert. Aron, Tenor, ist der bessere, weil gewöhnlichere Clown. Er singt, was die Stimme hergibt, ein Seiltänzer und Manipulator, die höchsten Lagen nicht scheuend, so sehr wie getreuer Korrepetitor jenes abstrakten Gedankentums, das Moses nicht aus dem Munde will. Andreas Conrads schneidender Tenor gab der Rolle, was ihr gebührt. Freilich steht und fällt die Oper mit den auf die Spitze getriebenen Antinomien der beiden Protagonisten. Gleichwertig die Konstellation der Chöre bei Schönberg in einem oratorischen Sinn.
Kosky interessiert das nicht. Er legt ungeheures Gewicht auf die Chöre, viel zu viel. Eine Gewalt an Menschen und Stimmen rückt von hinten in höllischem Tempo auf die Zuschauer zu, streckt die Arme, flattert mit den Händen. Dazu die Dispute der Chorführer. Was sie singen, bleibt weitgehend unverständlich. Der Chor teilt sich. Die Gruppen begiften einander. Schrei nach »Freiheit« in der Wüste. Zuletzt tragen die Chorgruppen Puppen. Die Bühne scheint tatsächlich eine Wüste (Klaus Grünberg), in der niemand Durst hat. Es regiert allein der Durst nach Aktion.
Derlei nutzt sich rasch ab. Vor allem nivelliert es vielfach die orchestralen Begleitparts. Dirigent Wladimir Jurowski hatte mit dem hauseigenen Orchester größte Mühe, die Balancen zu halten. Was das Sehen und Hören auslöst, überschreibt sich wechselseitig. Ja, die wiederkehrenden knalligen Chöre verkleistern, was genuin wahrnehmbar sein muss.
Fragwürdig der Schluss. Kosky zeigt Bilder einer Apokalypse. Die Puppen fallen ab und türmen sich wie die Leichen, die täglich die Bildschirme bevölkern. Moses, blutende hebräische Zeichen kleben an seiner Haut, bettet sich mit einem Teppich auf dem Leichenberg. Aron existiert nur noch als irre, schmauchende Puppe. Der Bezug zur Shoa ist allzu billig und aufgesetzt. Schönberg hätte sich entsetzt ob solcher Obskurität, selbst im Wissen um die Shoa. Die antifaschistische Oper intendiert die Befreiung, nicht die Vernichtung.