»Auf Gnad und Ungnad!«
Goethes »Götz« in Dessau, Wutbürger von heute und die Krux der Kompromisse
Deutsche Einheit Ost: Du sitzt in Dessau und denkst Rostock. Beide TheaterStädte sind derzeit so überall, wie es die Kali-Kampfstätte Bischofferode war. War! Der Staub, der aufgewirbelt wird, bleibt gewöhnlich Herr der Lage: Er setzt sich durch, indem er sich auf alles – legt. Und so wird sich alles Wutschaffende wohl leider friedhöflich beruhigen, wird im Regelwerk der Bürokratien ersticken. Am Anhaltischen Theater Dessau etwa muss Intendant André Bücker gehen – um diesen Kasus herum: das übliche Gezerre um Etats, Kürzungen. Kulturpolitiklosigkeit. Missachtung. Politikkulturlosigkeit.
Kurz vor Schluss inszenierte Bücker nun »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand« von Johann Wolfgang von Goethe, »ein deutsches Lied von der Freiheit«. Purer Sturm und Drang. Wie ein Vor-Spiel zu Schillers »Räubern«. Eisenfaustkämpfer Götz, solidaritätsnah den aufständischen Bauern und noch näher dem ehrlichen, offenen, regeltreuen mittelalterlichen Faust- und Fehderecht – er trifft aufs keimende bürgerliche Recht. Standesrecht. Abstrakt. Manipulierbar. Gummizäh auslegbar. Berlichingen – B wie Bohley: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Der Rechtsstaat ist ein Fortschritt, unbedingt. Aber auch er lehrt, was Fortschritt immer war, in jeder Gesellschaft: im Fortschreiten ein Wegdriften. Von Werten, Tugenden. Und also muss Götz in vielen, vielen Szenen aus Schlacht und Schlingelei – untergehen.
Die Dessauer Inszenierung hat ihre ganz eigene Dialektik – von Hölderlin gedichtet: »Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.« Dies Rettende, für jeweils vier Aufführungsstunden: eine mitreißende Kraft, aus des Ensembles Notwehr geboren; im Abschied ein glühender Überschuss; ja, wo das Gift der herrschenden Politik an die Wurzel geht, da blüht noch einmal die Krone grün wie nie. Fast zynisch, was Krisen bewirken. »Und alle Welt hofft«, heißt’s im »Götz«. Vergebens, aber hier doch sehenswert. Sehenswert, weil die Inszenierung, weil das Rauschfest dieser Truppe zwar alle Wut-Literatur dieser Welt zitierend zusammenholt, von Büchner bis Pussy Riot, von Luther bis Ensslin, von Sophokles bis Camus, aber: An keinem Punkt dieser Intensitäten und Improvisationen wird das eigene Theaterschicksal zum leiernden, liturgischen, launigen, gar larmoyanten Thema erhoben. Man macht kein Theater, man spielt Theater. Verdammt flammiges, pathetisch flächenfressendes, genussvoll expressives Theater.
Was zu sagen ist: Lass es krachen! Das hatte schon auf dem Vorplatz des Theaters begonnen, mit brennenden Fässern, Kanonenschlag und schleimig warnenden Law-and-Order-Re- den sogar vom Dach des Hauses. Aber unten auf den Treppen: ketzerisch die Luxemburg – mählich mischt sich das gesamte Spielensemble unter die Zuschauer. Gaukelei, die den Geist der kommenden Veranstaltung ins Gewusel der Leute pustet und prustet.
Die Aufführung weitet eine Wunde: Träumende Sehnsucht treibt den Menschen in den Aufruhr – einsichtiger Verstand treibt ihn dort wieder weg. Bücker fährt sie alle auf, die wir kennen, die Bühne ist dafür weit und groß und leer genug: Da ist der unideologische Eisengeist, da sind sympathische Trotz-alledem-Typen, da ist der eingefleischte Blutbad-Pädagoge, da ist der Mann des Handschlags, und da ist natürlich auch der Animator des Tot- und Kahlschlags. Ein irrwitziges Energiezittern geht durch die Personage. Vom Rang meldet sich der Opernchor: samten, stürmisch, körnig, kunstvoll. Aufputsch, Aufwind. Und deftige Zwischenrufe nach unten. Die werden erwidert: »Schnauze da oben!« Das Schlachtfeld: immer auch Showtableau.
Stark, wenn auf der großen Bühne der Mensch allein steht und wirkt. Erst apodiktisch kühn, dann apokalyptisch gepeinigt – und darin erst eigentlich würdevoll. Der Götz des Felix Defèr: jung, sehnig. Großer Junge, draufgängerisch, mit den Elastizitäten eines Turners. Ein Beispiel, dieser Kerl. Immer heißt es ja, man möge bei der Betrachtung von Verhaltensweisen den Charakter der jeweiligen Zeit betrachten, alles aus dieser Zeit heraus bewerten (auch die DDR lässt grüßen). Das sagen am innigsten die Feigen. Denn Zeit, was ist das? Es sind Menschen, und immer haben Einzelne, im Augenschein der gleichen Konflikte, gar in gleichem Geiste, doch mutiger, erschütterbarer gehandelt als die Menge, waren weniger säuselnd sittsam und waren nicht so lauernd listig wie die Karrieristen – die nie von Karriere, sondern von Einsicht und Pflicht haspelten (aber es gibt auch einen Karrierismus der idealgefütterten Mitläuferschaft). Dessaus Götz steht und widersteht und wundert sich irgendwann, warum er so alleine steht.
Mario Klischies als Georg, der Getreue des Götz: hier ein Behinderter, sprachverzögert, aber trommelstockpräzise. Berührend. Der Bauernkrieg: Aktion Mensch. Sebastian Müller Stahl gibt den Weislingen, auch ein Vertrauter von Götz und am Ende doch der Weg- und Überläufer, der Schin- der, der Wankende und Weiche – bestechend einfühlsam diese Studie der Schwäche, antikisch hart und heulenswert dann: Weislingens Sterben. Aufschwebt hinter ihm Maria (in Stille doch so wild: Katja Sieder), die Schwester von Götz, geflügelt, Heiner Müllers Engel der Verzweiflung: »Ich bin der, der sein wird. Ich bin das Messer, mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt.« Und: »Meine Hoffnung ist
Alle Epochen gleichsam in einer, das ist immer so falsch wie wahr. Vor allem wahr.
die erste Schlacht.« Die erste Schlacht nach der jeweils letzten. Schön dann, wieder von Siegen zu träumen.
Adelheid, eine der Frauen im Stück (Illi Oehlmann: dämonisch, abgefeimt), wird mit Rilke auf den Lippen sterben: Schönheit? Nur immer der Anfang des nächsten Schreckens. Denn Verführung (ob durch schöne Märchen oder schöne Mädchen, ob durch schöne Weltentwürfe oder schöne Weiber) ist immer auch Ent- führung – und mancher Verführte sieht sein Ich nie wieder. War so, ist so, bleibt so. Zum Beweis dessen kommt verwegene, verwirrte, verwahrloste, verarmte Masse auf die Bühne. Da eine FDJ-Fahne, da das Regenbogenbanner, dort ein SA-Mann, da drüben der Rotarmist, und unter Schwarz-Rot-Gold werden die Schwerter gezückt wie die Gewehre in Anschlag gebracht. Alle Epochen gleichsam in einer, das ist immer so falsch wie wahr. Vor allem wahr.
Starkes Theater der Verzweiflung: Die Welt ist grausamer geworden in ihrer Gelassenheit, Selektion zu ertragen, Arm und Reich, Wert und scheinbaren Unwert. Und diejenigen, die selektieren, sind raffinierter geworden, Selektion zu vertuschen. Angekurbelt wird so die Wutbürgerproduktion. Die Ratlosigkeit auch. Wir sehen diesen Kaisertreuen und Fürstenhasser Götz, sehen diesen Rebellen und wissen um uns selber: Wir sind Koalitions- und Konsenskünstler. Der Kompromiss ist unsere Schule der Freiheit – aber: Kompromissfähigkeit zerstört auch, und zwar die Entschiedenheit, einen Zustand nicht hinzunehmen und daraus den Mut zu entwickeln, ein radikales Zeichen zu setzen. Menschenrechte? Unbedingt! Aber was ist mit den Rechten eines Gefühlshaushalts, der die Wut herauslässt, statt ihn in einen Diskurs zu kanalisieren? Der das Feuer anzündet, statt es als Lichterkette aufglimmen zu lassen?
Du siehst diesen Götz, du begreifst sein Scheitern, wie du Kohlhaas’ Scheitern jedes Mal neu begreifst – solche Gestalten bleiben ungebetene Abgesandte unseres Unbewussten. Das just dort hassen, zürnen, toben will, wo die Vernunft immer wieder zur Mäßigung treibt. Verfluchen wir nicht manchmal das, was sich in uns Vernunft nennt, in Wahrheit aber Elend ist? Im Stück das letzte Wort über Götz: »Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt.« Übersetzt ins Heute: Ein Land, in dem man sich nach solchen Leuten sehnt, befindet sich vielleicht schon mitten im Verfall.
»Mich ergeben! Auf Gnad und Ungnad! Mit wem redet Ihr?« So steht das selbstbewusste Wort des Götz groß an der Theaterfassade. Das gefällt, klar. Denn in Gedanken lügen wir uns gern Mut und Sprengkraft an – die Körper aber sagen die Wahrheit: Sie folgen den Regeln. Reinigung, umstürzlerische Konsequenz? Ja, schön wär’s und nötig auch, und bleibt doch nur ein Sündenspiel für den Geist. Mehr nicht. Wieder draußen aus dem Theater (dessen Saaltüren während des Spiels ständig offen standen), erkennen wir jenes Blutrot, das aus den Geköpften der Story sprang, in jedem Ampelschein. Aber halten doch brav an. Und morgen auch wieder den Mund?
Nächste Vorstellungen: 3., 29. Mai