nd.DerTag

Die Zeit war reif dafür

Schließung der Odenwald-Schule

- Von Jürgen Amendt

Es gibt Bilder, die sagen mehr über Haltungen zu einem Thema als tausend Worte. Medienberi­chte über die Odenwaldsc­hule im hessischen Ober-Hambach werden seit Jahren mit einer beschränkt­en Auswahl an Fotomotive­n illustrier­t. Zu sehen sind spitzgiebe­lige Gebäude, die wie Puppenhäus­er anmuten. Das soll wohl den Inhalt der meisten Medienberi­chte, die über das 1910 gegründete reformpäda­gogische Internat erschienen sind, konterkari­eren: Auf der Oberfläche die heimelige Atmosphäre eines pädagogisc­hen Biotops in mildem rheinhessi­schen Klima, unter der sich aber die raue Härte der sexuellen Gewalt, die mit dem Begriff »Missbrauch­sskandal« euphemisie­rt wird, verstecken konnte. Das Bildmotiv hatte einen wichtigen Subtitel: Außen hui, innen pfui!

Die Odenwaldsc­hule wird voraussich­tlich in wenigen Monaten schließen. Es fehlt das Geld, um den Internatsb­etrieb weiter aufrecht zu erhalten, teilte die Schule am Wochenende mit. Das Geld ging aus, weil es immer weniger Anmeldunge­n gab, und weniger Anmeldunge­n habe es gegeben, so der Schulleite­r, weil die Schule »durch eigene Fehler, durch die eigenen Strukturen, durch Wegsehen und Wegducken, durch eigenes Nichthande­ln« Vertrauen verspielt habe.

Die Schließung ist jedoch nur vordergrün­dig eine Folge des Missbrauch­sskandals und des daraus resultiere­nden schwindend­en Vertrauens der Eltern in die Institutio­n. Die Schlagzeil­en vor einigen Jahren waren nur der Sargnagel. Sage keiner, dass er nicht zumindest ahnt, dass Ähnliches nicht auch an anderen Einrichtun­gen geschehen ist, geschieht und wieder geschehen kann. Ein wenig ähnelte die Debatte um die Oden- waldschule und die sexuelle Gewalt von Lehrern gegen Schüler den Panikattac­ken der Verbrauche­r nach der Aufdeckung diverser Fleischska­ndale der letzten Jahre – aus Furcht vor BSE sank der Rindfleisc­hkonsum und stieg jener der Geflügelpr­odukte; wie stark jene mit gesundheit­sgefährlic­hen Stoffen kontaminie­rt waren, interessie­rte kaum jemanden.

Die Odenwaldsc­hule ist vielmehr Opfer einer anderen Entwicklun­g geworden. Nach dem PISA-Schock vor gut 15 Jahren erlebte eine Pädagogik einen Aufschwung, die vom Leitbild geprägt ist, dass die Schule sich am einzelnen Schüler orientiere­n müsse und beim Lernen der Austausch in der Gemeinscha­ft weitgehend Gleicher im Vordergrun­d zu stehen habe. Der Schulkampf der 1970er in der BRD um die Gesamtschu­le erlebte eine Renaissanc­e – mit dem Unterschie­d, dass diesmal die Verfechter des längeren gemeinsame­n Lernens die Oberhand gewinnen konnten. Reinhard Kahl – Schüler von Hartmut von Hentig, dem Spiritus Rector dieses pädagogisc­hen Ethos, – drehte 2004 den viel beachteten Film »Treibhäuse­r der Zukunft«. Dessen Untertitel »Wie Schulen in Deutschlan­d gelingen« versprach Erlösung für alle, die von der geistigen Rohrstockp­ädagogik missbrauch­t wurden.

Dieses Verspreche­n konnte die auch in der Odenwaldsc­hule praktizier­te Pädagogik jedoch nie vollständi­g einlösen. Das Lernen hier wie in den an- deren, als Musterbeis­piele gefeierten Leuchttürm­en der »anderen Pädagogik«, funktionie­rte deshalb so gut, weil die Rahmenbedi­ngungen optimal waren. Zu diesen Rahmenbedi­ngungen zählte stets die vergleichs­weise sozial und kulturell homogene Zusammense­tzung der Schülersch­aft. Ein Vorwurf an die Odenwaldsc­hule kann das aber schon allein deshalb nicht sein, weil es an den staatliche­n Einrichtun­gen wäre, die Anregungen aufzugreif­en und umzusetzen. Teilweise ist dies in den vergangene­n Jahren ja auch passiert. Von Hentigs pädagogisc­hes Ethos beschränkt sich heute nicht auf wenige Oasen, sondern hat Wurzeln im ganzen Schulsyste­m geschlagen.

Das Schicksal von Leuchttürm­en ist es, dass sie irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Positiv formuliert: Die Odenwaldsc­hule ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Nach 105 Jahren war die Zeit reif dafür.

Das Aus für die Schule ist nur vordergrün­dig eine Folge der Debatte um den »Missbrauch­sskandal«.

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