Die Zeit war reif dafür
Schließung der Odenwald-Schule
Es gibt Bilder, die sagen mehr über Haltungen zu einem Thema als tausend Worte. Medienberichte über die Odenwaldschule im hessischen Ober-Hambach werden seit Jahren mit einer beschränkten Auswahl an Fotomotiven illustriert. Zu sehen sind spitzgiebelige Gebäude, die wie Puppenhäuser anmuten. Das soll wohl den Inhalt der meisten Medienberichte, die über das 1910 gegründete reformpädagogische Internat erschienen sind, konterkarieren: Auf der Oberfläche die heimelige Atmosphäre eines pädagogischen Biotops in mildem rheinhessischen Klima, unter der sich aber die raue Härte der sexuellen Gewalt, die mit dem Begriff »Missbrauchsskandal« euphemisiert wird, verstecken konnte. Das Bildmotiv hatte einen wichtigen Subtitel: Außen hui, innen pfui!
Die Odenwaldschule wird voraussichtlich in wenigen Monaten schließen. Es fehlt das Geld, um den Internatsbetrieb weiter aufrecht zu erhalten, teilte die Schule am Wochenende mit. Das Geld ging aus, weil es immer weniger Anmeldungen gab, und weniger Anmeldungen habe es gegeben, so der Schulleiter, weil die Schule »durch eigene Fehler, durch die eigenen Strukturen, durch Wegsehen und Wegducken, durch eigenes Nichthandeln« Vertrauen verspielt habe.
Die Schließung ist jedoch nur vordergründig eine Folge des Missbrauchsskandals und des daraus resultierenden schwindenden Vertrauens der Eltern in die Institution. Die Schlagzeilen vor einigen Jahren waren nur der Sargnagel. Sage keiner, dass er nicht zumindest ahnt, dass Ähnliches nicht auch an anderen Einrichtungen geschehen ist, geschieht und wieder geschehen kann. Ein wenig ähnelte die Debatte um die Oden- waldschule und die sexuelle Gewalt von Lehrern gegen Schüler den Panikattacken der Verbraucher nach der Aufdeckung diverser Fleischskandale der letzten Jahre – aus Furcht vor BSE sank der Rindfleischkonsum und stieg jener der Geflügelprodukte; wie stark jene mit gesundheitsgefährlichen Stoffen kontaminiert waren, interessierte kaum jemanden.
Die Odenwaldschule ist vielmehr Opfer einer anderen Entwicklung geworden. Nach dem PISA-Schock vor gut 15 Jahren erlebte eine Pädagogik einen Aufschwung, die vom Leitbild geprägt ist, dass die Schule sich am einzelnen Schüler orientieren müsse und beim Lernen der Austausch in der Gemeinschaft weitgehend Gleicher im Vordergrund zu stehen habe. Der Schulkampf der 1970er in der BRD um die Gesamtschule erlebte eine Renaissance – mit dem Unterschied, dass diesmal die Verfechter des längeren gemeinsamen Lernens die Oberhand gewinnen konnten. Reinhard Kahl – Schüler von Hartmut von Hentig, dem Spiritus Rector dieses pädagogischen Ethos, – drehte 2004 den viel beachteten Film »Treibhäuser der Zukunft«. Dessen Untertitel »Wie Schulen in Deutschland gelingen« versprach Erlösung für alle, die von der geistigen Rohrstockpädagogik missbraucht wurden.
Dieses Versprechen konnte die auch in der Odenwaldschule praktizierte Pädagogik jedoch nie vollständig einlösen. Das Lernen hier wie in den an- deren, als Musterbeispiele gefeierten Leuchttürmen der »anderen Pädagogik«, funktionierte deshalb so gut, weil die Rahmenbedingungen optimal waren. Zu diesen Rahmenbedingungen zählte stets die vergleichsweise sozial und kulturell homogene Zusammensetzung der Schülerschaft. Ein Vorwurf an die Odenwaldschule kann das aber schon allein deshalb nicht sein, weil es an den staatlichen Einrichtungen wäre, die Anregungen aufzugreifen und umzusetzen. Teilweise ist dies in den vergangenen Jahren ja auch passiert. Von Hentigs pädagogisches Ethos beschränkt sich heute nicht auf wenige Oasen, sondern hat Wurzeln im ganzen Schulsystem geschlagen.
Das Schicksal von Leuchttürmen ist es, dass sie irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Positiv formuliert: Die Odenwaldschule ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Nach 105 Jahren war die Zeit reif dafür.
Das Aus für die Schule ist nur vordergründig eine Folge der Debatte um den »Missbrauchsskandal«.