Es lohnt, an den Kälbermarsch zu erinnern
Zu »Lehrerin ließ Nazi-Hymne singen«, 15.4., S. 9
Der Aufmacher ist wohl etwas reißerisch. Im vorletzten Absatz klingt an, dass es wohl um die Behandlung des Kälbermarsches von Bertolt Brecht und Hanns Eisler ging. Was auch immer die Intention der möglicherweise unglücklich und ganz sicher unprofessionell agierenden Lehrerin gewesen ist, es lohnt sich, bei dieser Gelegenheit an die Entstehungsgeschichte des Kälbermarsches zu erinnern (»Hinter der Trommel her trotten die Kälber. Das Fell für die Trommel liefern sie selber.«)
Dieses Lied – 1943 komponiert und später in die Bühnenmusik von Schweyk im Zweiten Weltkrieg übernommen – parodiert textlich und musikalisch das Horst-Wessel-Lied. In der Komposition des Refrains übernimmt Eisler die ersten drei Zeilen fast identisch. Brecht entgegnet dem Text von Horst Wessel folgendes: »Die Fahne hoch! – Der Metzger ruft. Die Reihen dicht geschlossen! – Die Augen fest geschlossen. SA marschiert – das Kalb marschiert mit ruhig festem Schritt. – mit ruhig festem Tritt.« Und er schließt den Refrain mit den Zeilen: »Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen, sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit« – auch dies unter parodierendem Bezug auf den ursprünglichen Text.
Die Melodie des Horst-Wessel-Liedes geht zurück auf ein seinerzeit sehr bekanntes Volkslied (Es wollt ein Mann in seine Heimat reisen), ist also geklaut. Es ist nicht bekannt, ob dies dem Dichter und Parodisten Brecht bekannt war, als er schrieb: »Das Fell für die Trommel liefern sie selber.« Auch in den Eisler-Schriften findet sich kein Hinweis dazu. Dies ist letztlich egal; beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist der Kälbermarsch die geniale Parodie einer Parodie.
Das Umsingen und Variieren bekannter Lieder ist ein weit verbreitetes Verfahren gewesen; besonders benutzt und perfide eingesetzt von den Nazis. Demagogie hat ein leichtes Spiel, wenn emotional aufgeladene Traditionen bedient werden und kritischer Verstand auf der Strecke bleibt. Text und Komposition des Kälbermarsches warnen eindringlich davor.
Es ist großartig, dieses Lied im Unterricht zu behandeln, allerdings völlig kontraproduktiv, das HorstWessel-Lied zu zelebrieren. Liebe unbekannte Lehrerin, spielen Sie Ihren Schülern die großartige Aufnahme mit Hanns Eisler vor!