»Es ist also möglich, von Regeln abzuweichen«
Festung Europa und Festung Vereinigte Staaten – Auswanderung und Flucht sind traditionell zentrale Themen auf dem Freiburger Film Forum
Das Freiburger Film Forum wurde 30 und bot ein hervorragend kuratiertes Programm mit vielen Gesprächen zwischen Regisseuren und Publikum.
»Don’t take it personal«, sagt der Mann freundlich. »Nehmen Sie es nicht persönlich.« »Wir befolgen Regeln.« Clara sitzt in Abschiebehaft. Einige Meter weiter heben Flugzeuge von Schiphol Airport Amsterdam ab. In einem von ihnen wird sie nach Nigeria fliegen. Jahrelang lebte sie in den Niederlanden, ohne Papiere. Und dieser Mann auf der anderen Seite des Tisches erklärt ihr, dass sie die Ausweisung nicht persönlich nehmen solle?
Natürlich ist es persönlich, antwortet sie und schlägt sich gegen die Brust. »Ich bin hier, sitze Ihnen gegenüber.« Die Regisseurin Jacqueline van Vugt präsentierte am Wochenende auf dem Freiburger Film Forum ihren Dokumentarfilm »Borders«. Sie folgte durch Westafrika der Spur der Menschen, für die Europa ein Sehnsuchtsort ist. Sie traf Frauen, die von Schleppern zur Prostitution gezwungen oder zurückgelassen werden; korrupte Beamte in Paradeuni- formen, die lässig darüber richten, wer passieren darf; und effizient arbeitende Polizisten an den Grenzen der »Festung Europa«, die Lastwagen durchkämmen, um Einreisende aufzuspüren. Van Vugt, 1970 geboren, verleiht der Migration ein Gesicht. Manchmal unerwünscht – wie bei einer Gruppe, die von belgischen Grenzbeamten entdeckt wird und vor der Kamera die Gesichter verbirgt.
Auswanderung und Flucht sind traditionell zentrale Themen auf dem Freiburger Film Forum, das am Sonntag zu Ende ging. Seit 1985 findet es alle zwei Jahre im Kommunalen Kino statt und erkundet die Spannbreite visueller Anthropologie in dokumentarischen Formen. Für Flüchtlinge aus Freiburger Wohnheimen ist in diesem Kino der Eintritt frei. Ein Interessent erhielt eine Dauerkarte fürs Festival.
Zum 30-jährigen Jubiläum knüpfte man an Klassiker an, um in Richtung Zukunft auszuholen:, bei dem in einer Auswahl fein komponierte Stillleben (»Hinoki Farm«, Regie Akiro Hellgardt) auf ein spaciges LautSchrift-Arrangement (»Little Short Film«, Pia Ilonka) trafen. Die nicht ganz so neue Richtung in der visuellen Anthropologie will alle Sinne bespielen. 2006 wurde das »Sensory Ethnography Lab« an der US-amerikanischen Universität Harvard gegründet, und seither rocken Filme dieser Schule die Festivals – wie der hinreißende »Sweetgrass« (2009) von Lucien Castaing-Taylor und Ilisa Barbash, die Hirten in den Bergen Montanas beim Schafauftrieb begleiteten. Seinen Stil beschreibt der 1979 im Mittleren Westen der USA geborene Regisseur als aufgeschlossen: Er tauche ins Geschehen ein, halte im Vor- feld keine These parat und vermittle keine Botschaft. Charakteristisch sind der markante Einsatz von Geräuschen als Ouvertüre, die den Zuschauer mit angespannter Irritation in den Film zieht, und die Interaktion mit Beteiligten.
Der mexikanische Film »Llèvate mis amores – all of me«, ebenfalls von 2014, kommt ohne theoretischen Ballast, aber mit überbordender Zuneigung für seine Akteure daher: Frauen aus dem Dorf La Patrona versorgen seit 1995 Migranten, die auf dem Dach von Güterzügen an die Grenze der Vereinigten Staaten gelangen wollen, mit Nahrung. Wann immer sie aus der Ferne das Pfeifen des Zuges vernehmen, stellen sich die Frauen mit Körben an die Gleise und werfen den Menschen vorbereitete Plastiktüten mit Lebensmitteln und Wasserflaschen zu.
Eigentlich sei es verboten, den »Illegalen« zu helfen. Aber eine der Initiatorinnen berichtet, wie sie mit den Behörden über ihren Bewegungsraum verhandeln. Es ist also möglich, von Regeln abzuweichen. Oder wie es Regisseur Arturo González Villaseñor dem Publikum mit auf den Weg gab: »Man muss ein Schicksal nicht erlebt haben, um Empathie zu empfinden.«