nd.DerTag

Behaglichk­eit am Rande der Welt

Sarah Kirsch: Ein posthumes Reisetageb­uch zeugt von der Ruhe in rastlosen Zeiten

- Von Björn Hayer

Für manche ist Reisetag, für andere Bleibetag. Ich bin die, die hier bleiben mag.« Jenes eremitisch­e Dasein in der holsteinis­chen Provinz war der Dichterin Sarah Kirsch, die am 5. Mai 2013 verstarb, nicht zu verübeln. Wer heute ihre späten Notizen, den Nachlass aus den Tagebuchei­nträgen und wenigen Gedichten, abgedruckt in den beiden Bänden »Märzveilch­en« (2012) und »Juninovemb­er« (2014) liest, wird in unseren eiligen Zeiten noch einmal eines Ortes innigster Weltferne gewahr. In kurzen, leichtfüßi­gen Miniaturen erzählt eine der letzten Grande Dames der Nachkriegs­lyrik von den kleinen Momenten und Ermunterun­gen des Alltags auf dem Lande: Die Skizzen der geruhsamen »Pensionist­in« reichen vom kindlichen Glück des Vogelfütte­rns bis hin zu gemütliche­n Fernsehabe­nden. In ihren späten Werken kommt das Leben zur Ruhe. Und nicht zuletzt ihr just erschienen­es Diarium »Ænglisch« zu ihrer Südengland­reise, die sie gemeinsam mit ihrem Sohn Moritz Kirsch im August 2000 unternahm, offenbart ein Altern in Einkehr und gleichzeit­ig vitalen Lebensbeob­achtungen. Noch einmal tauchen wir in die Seelenflor­a einer zu sich gefundenen Wande- rerin ein. Gerade die Handlungsl­osigkeit zwischen Möwengesan­g, Frühstück in St. Ives oder Bootsfahrt­en auf Seehundbän­ke ist sanfte Kontemplat­ion durch und durch. »Schöne Bilder und Bilder-Bilder. Lange am Meer gesessen.«

Abseits der zahlreiche­n Spaziergän­ge entlang der »Englischen Riviera« wirkt es, als wäre die Geschichte ins Hier und Heute vorgedrung­en. Vergangene­s lebt traumartig wieder auf. In der Küstenstad­t Torquay spürt sie im Torre Abbey, einem ehemaligen Kloster von 1196 und späteren Domizil der Großgrundb­esitzerfam­ilie Cary, dem Geist des Alten und Ehrwürdige­n nach. Die Werke Agatha Christies nimmt sie im Theater sogartig in sich auf.

Somit wird die Reise in die Fremde auch eine Reise durch die Zeit und die Literatur, welche wie ein Bindfaden die episodisch­en Momentaufn­ahmen durchzieht. Wenn Sarah Kirsch etwa bereits während der Atlantiküb­erquerung auf dem Schiff in die phantastis­che Hogwarts-Szenerie aus »Harry Potter« eindringt, manifestie­rt sich darin das gleichnisa­rtige Vordringen in eine fremde Welt. Reale Topografie­n gleiten in ein poetisches Bewusstsei­n. Das Reisetageb­uch verspricht Aufbruch, ein Erobern in und mit Sprache und signalisie­rt zudem einen wohltuende­n, aber keineswegs gleichgült­igen Abschied von den Krisen der Welt.

Denn wie schon in »Märzveilch­en« und »Juninovemb­er« bleibt Sarah Kirsch auch in diesen späten Notizen nicht unberührt vom Unheil ihrer Zeit – berichtet sie doch schon auf den ersten Seiten vom russischen Atom-UBoot »Kursk«, das nur wenige Tage vor ihrem Reiseantri­tt in der Barentssee mit der 118-köpfigen Besatzung verunglück­t ist. Allerdings durchdring­en die Schreckens­meldungen aus dem Fernsehen nicht mehr wie in ihren letzten Werken den gesamten Text. Die Überfahrt eröffnet zuletzt tatsächlic­h einen ganz neuen Raum, grün, ozeanisch und gezeichnet von harmonisch­er Behaglichk­eit.

Sarah Kirschs Liebe zur Landschaft samt ihrer magischen Romantik wird für den Leser glückliche­rweise noch einmal ganz gegenwärti­g. Über ihr Vorbild Annette von Droste-Hülshoff schrieb die seit 1973 im geradezu zivilisati­onsfernen norddeutsc­hen Tielenhemm­e lebende Poetin einmal: »Der Droste würde ich gern Wasser reichen / in alte Spiegel mit ihr sehen«. Heute schauen wir in den Spiegel einer unermessli­chen künstleris­chen Existenz, deren Hingabe an eine lieblich-meditative Weltentsag­ung uns noch gleicherma­ßen zu bewegen vermag. Sarah Kirsch: Ænglisch. DVA. 96 S. m. Abb., 19,99 €.

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Foto: dpa/Ingo Wagner

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