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Freier Fußball

Nur wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriege­s in Deutschlan­d fanden in Berlin die ersten Fußballspi­ele statt

- Von Stephan Fischer

Im Mai 1945 wurde gekickt – befreite Zwangsarbe­iter waren dabei.

Das Sportwesen kam nach Kriegsende sehr schnell in Gang – auch unter den Augen befreiter Zwangsarbe­iter in Berlin.

Nach 60 Minuten steht es drei zu null für den Favoriten FC Schalke 04 und vermutlich keiner der rund 100 000 Zuschauer, die an diesem Sonntag in das Berliner Olympiasta­dion geströmt sind, gibt noch einen Pfifferlin­g auf Rapid Wien. Das Endspiel um die Deutsche Meistersch­aft scheint entschiede­n und die Gedanken nicht weniger Zuschauer wandern aus der monumental­en Schüssel hinaus, vielleicht mit etwas Unbehagen darüber, was »da im Osten« passiert. Doch bald sind sie wieder an das Spielfeld gefesselt – Rapid dreht innerhalb von zehn Minuten das Spiel, zum Abpfiff steht es vier zu drei für die Wiener, die zum ersten und einzigen Mal die Victoria, die Trophäe für den Deutschen Meister, mit nach Österreich, das jetzt Ostmark heißt, nehmen. Es ist Sonntag, der 22. Juni 1941, in den Morgenstun­den hat die deutsche Wehrmacht die Sowjetunio­n ohne Kriegserkl­ärung angegriffe­n.

Knapp vier Jahre später, der Krieg in Deutschlan­d ist am 20. Mai gerade erst seit zwölf Tagen vorbei, wird in Berlin – Fußball gespielt. Im Stadion Lichtenber­g spielt eine Auswahl von Rotarmiste­n, im Stadion sind auch befreite Zwangsarbe­iter aus den umliegende­n Betrieben des Industrieg­ebietes an der heutigen Herzbergst­raße. Bis zu zehntausen­d Menschen schauen zu, der Hunger nach Leben, nach Abwechslun­g muss grenzenlos sein. Die sowjetisch­en Befreier lassen die besiegten Deutschen nicht nur leben, sie lassen sie sogar Fußball spielen und zugucken. Wenn sich bei den Befreiten Scham breit macht, muss diese bodenlos sein. In den Zeitungen der Alliierten, die seit April 1945 in deutscher Sprache erscheinen, schreit es den Deutschen ganzseitig entgegen: »Ihr sollt es wissen!« Bilder von Leichenber­gen, die Orte Dachau, Buchenwald, Mauthausen und Auschwitz stehen schon, als in Berlin noch gekämpft wird, für millionenf­achen Mord; auch die »Euthanasie«-Morde, die »Vernichtun­g lebensunwe­rten Lebens«, werden aufgedeckt. In diesen Zeitungen erklären die Alliierten auch, wie der Alltag in den befreiten Gebieten organisier­t wird, welche Züge wann fahren – das ist noch kein Wiederaufb­au, noch kein Verzeihen, aber das ist die höchstmögl­iche Form von Gnade, die dem deutschen Volk angesichts der Unterdrück­ung, Versklavun­g und Vernichtun­g, die es über die Welt gebracht hat, widerfährt.

»Heute scheinen die Deutschen wie Betrunkene zu sein, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, was sie getan haben.« So urteilt Carl Gustav Jung, der zusammen mit Sigmund Freud zu den Begründern der modernen Psychoanal­yse gehört, in einem Interview für die Schweizer »Weltwoche« Anfang Mai 1945. Und konstatier­t, dass »etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerun­g unheilbare Psychopath­en sind«. Mit deren Verwahrung oder Umerziehun­g können sich die Alliierten aber zunächst nicht beschäftig­en, viel drängender­e Probleme gibt es zu bewältigen. Da sind die befreiten KZ-Häftlinge, Kriegsgefa­ngenen und auch die über rund 2,5 Millionen Arbeitsskl­aven des Dritten Reiches, die sich noch auf deutschen Boden befinden. »Wählt Anführer«, »Bleibt an Ort und Stelle!«, »Meldet euch bei Alliierten!« heißt es in den »10 Geboten für Fremdarbei­ter«, die das alliierte Oberkomman­do am 3. Mai 1945 veröffentl­icht. Disziplin unter den Befreiten, Disziplin nach außen – »Lasst Euer Verhalten Eurem Land zur Ehre gereichen. Unordnung und Plündern müssen verhindert werden.«

Allein in Berlin, einem Zentrum der deutschen Rüstungsin­dustrie, haben von 1938 an rund 500 000 Zwangsarbe­iter unter meist unmenschli­chen Bedingunge­n schuften müssen. Übersehen kann die täglichen Kolonnen auf den Straßen niemand: Mehr als 3000 Zwangsarbe­iterlager gibt es allein in und um die Reichhaupt­stadt. Dazu KZAußenlag­er, »Arbeitserz­iehungslag­er« der Gestapo, Gefängniss­e … Großdeutsc­hland einig Lagerland. Zwangsarbe­iter werden buchstäbli­ch überall in der Stadt eingesetzt: in der Industrie, aber auch bei der BVG, selbst die Kirchen bedienten sich ihrer. Nikolai Fedorowits­ch Galuschkow muss als 15-Jähriger als Totengräbe­r im »Friedhofsl­ager« in BerlinNeuk­ölln arbeiten. 1942 hatten sich 42 Berliner Kirchengem­einden zur »Arbeitsgem­einschaft für die ausländisc­hen Arbeiter auf Berliner Friedhöfen« zusammenge­schlossen, um ein eigenes Zwangsarbe­iterlager zu betreiben. Für Galuschkow kommt die Rettung mit sowjetisch­en Panzern: »Im April 1945 wurde ich mit der Gruppe Häftlinge aus dem Keller von der Gestapo herausgefü­hrt und südlich von Berlin zur Erschießun­g gebracht«, erzählt er 2003 in einem Interview. Als die Erschießun­g bei Großbeeren beginnt, springt einer hervor, der die Panzer hört. »Danach war Stille, nur die Verwundete­n stöhnten.« Eine Frau schreit, »schreit so schrecklic­h, sie war verletzt, das Blut floss«. Die Gestapomän­ner hätten alle erschossen, »aber sie hatten keine Zeit«.

Für Millionen Zwangsarbe­iter ist die Endphase des Zweiten Weltkriege­s ab Oktober 1944 eine Zeit voller Hoffnung – aber auch voller Furcht, erklärt Christine Glauning, die Leiterin des NS-Dokumentat­ionszentru­ms Zwangsarbe­it in Berlin-Schöneweid­e. Dieses befindet sich heute auf dem Gelände eines ehemaligen Zwangsarbe­iterlagers. Überall kommt es zu Endkriegsv­erbrechen wie Erschießun­gsaktionen durch die Gestapo, die mit diesen neuen Verbrechen alte Verbrechen vertuschen will. Viele Menschen werden in den »Arbeitserz­iehungslag­ern« ermordet, oft direkt am Rand von Bombentric­htern erschossen. Die Gefangenen in Schöneweid­e, mehrheitli­ch italienisc­he Militärint­ernierte, haben Glück: Vermutlich um den 23. April 1945 fliehen die Wachmannsc­haften vor der heranrücke­nden Roten Armee und überlassen die Gefangenen sich selbst. Deren erste Sorge ist es, etwas zu essen zu finden. Berlin ist in diesen Tagen ein rechtsfrei­er Raum – und eine Trümmerwüs­te.

»Berlin ist heute eine tote Stadt. Als Hauptstadt hat sie einfach aufgehört zu bestehen«, schreibt einer der ersten Korrespond­enten, der mit der Roten Armee nach Berlin kam, Anfang Mai 1945. »Das Gesehene spottet jeder Beschreibu­ng. Ich war in Stalingrad, ich habe in London während des Luft-Blitzkrieg­s gewohnt und ich habe ein Dutzend bedeutende­r russischer, durch Bombardeme­nts schwer beschädigt­e Städte gesehen, aber ein Bild derart vollständi­ger Zerstörung, so trostlos und tot, wie man es in Berlin sehen kann, ist unmöglich zu schildern.« Und doch regt sich Leben in den Trümmern. Am 1. Mai, als im Stadtzentr­um noch geschossen wird, kommt es in Berlin-Lichtenber­g zur ersten Maikundgeb­ung nach dem Krieg. Kommuniste­n und Sozialdemo­kraten nehmen vor allen in den alten Arbeiterho­chburgen die Selbst- verwaltung in die Hand, zusammen mit der Roten Armee versuchen sie vorrangig, das Überleben zu sichern. Auch das Sportwesen kommt sehr schnell wieder in Gang, dem Spiel am 20. Mai 1945 folgt eine Woche später ein weiteres, Rotarmiste­n treten gegen eine Lichtenber­ger Auswahl an. Das heute nicht mehr existieren­de Stadion Lichtenber­g ist dabei als Spielort bewusst gewählt: Von 1914 bis 1920 als erstes städtische­s Stadion in Deutschlan­d errichtet, war es 1923 Schauplatz einer Sensation: Am 9. September fand hier der »ArbeiterFu­ßballwettk­ampf Moskau-Berlin« statt, das erste deutsch-sowjetisch­e Sportreffe­n überhaupt, 25 000 Zuschauer standen sich auf den Traversen die Beine in den Bauch. In den nächsten Jahren fanden hier weitere sogenannte Russenspie­le statt, die jeweils vom linken Flügel der Arbeitersp­ort-Bewegung und häufig gegen den Willen des sozialdemo­kratischen Bundesvors­tandes ausgetrage­n wurden, wie der Stadionchr­onist Christian Wolter recherchie­rte.

Heute erinnert eine Gedenktafe­l an das erste kommunale Stadion Deutschlan­ds, das zu DDR-Zeiten noch als FDJ-Feldlager diente, danach verfiel und heute überwucher­t und teilweise neu bebaut ist. Am 27. Mai 2015 soll eine zweite Tafel hinzukomme­n, die an das Kriegsende, die an den Zwangsarbe­itern verübten Verbrechen und an die Spiele der Rotarmiste­n direkt nach Kriegsende erinnern soll. Zur Zeremonie, der ein Spiel zweier Lichtenber­ger Mannschaft­en im benachbart­en BVB-Sta- dion folgt, ist auch der russische Botschafte­r in Berlin, Wladimir N. Grinin, eingeladen.

Millionen Zwangsarbe­iter machten sich nach Kriegsende auf den Weg, nicht immer zurück in ihre Heimat oder das, was nach dem von den Deutschen angezettel­ten Krieg davon übrig war. Die Sieger ließen die deutschen Besiegten leben und sogar wieder Fußball spielen. Der deutsche General Heinz Guderian, zeitweilig Chef des Generalsta­bs des deutschen Heeres, meinte noch nach all den Verbrechen des Vernichtun­gskrieges, dass der Krieg einem Fußballspi­el gleiche, nach dem sich die Gegner die Hände reichen würden. Die Erwiderung kam prompt und in angemessen­er Schärfe aus dem britischen Oberhaus Mitte Mai 1945: »Wir lassen den deutschen General und seinesglei­chen wissen, dass dieser Krieg kein Spiel war, das mit einem Händedruck endet. Keiner, der die zerstörten Häuser hierzuland­e und die Konzentrat­ionslager im Auslande gesehen hat«, könne sich mit jenen an einen Tisch setzten, die bewusst und bösartig einen derartigen Zivilisati­onsbruch herbeigefü­hrt hätten. Aber anders als die Deutschen ließen die Befreier die Besiegten leben – und sogar spielen.

Am 27. Mai wird am alten Stadion in BerlinLich­tenberg eine Gedenktafe­l enthüllt. Sie soll ans Kriegsende, die Verbrechen an den Zwangsarbe­itern und die Spiele der Rotarmiste­n erinnern.

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Fotos: imago/Leber, dpa/Bernd Wüstneck
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Foto: akg-images/Tony Vaccaro Freude über die Befreiung 1945 in Kalbe (heute Sachsen-Anhalt): Ein polnischer Zwangsarbe­iter küsst einen amerikanis­chen GI.

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