Freier Fußball
Nur wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland fanden in Berlin die ersten Fußballspiele statt
Im Mai 1945 wurde gekickt – befreite Zwangsarbeiter waren dabei.
Das Sportwesen kam nach Kriegsende sehr schnell in Gang – auch unter den Augen befreiter Zwangsarbeiter in Berlin.
Nach 60 Minuten steht es drei zu null für den Favoriten FC Schalke 04 und vermutlich keiner der rund 100 000 Zuschauer, die an diesem Sonntag in das Berliner Olympiastadion geströmt sind, gibt noch einen Pfifferling auf Rapid Wien. Das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft scheint entschieden und die Gedanken nicht weniger Zuschauer wandern aus der monumentalen Schüssel hinaus, vielleicht mit etwas Unbehagen darüber, was »da im Osten« passiert. Doch bald sind sie wieder an das Spielfeld gefesselt – Rapid dreht innerhalb von zehn Minuten das Spiel, zum Abpfiff steht es vier zu drei für die Wiener, die zum ersten und einzigen Mal die Victoria, die Trophäe für den Deutschen Meister, mit nach Österreich, das jetzt Ostmark heißt, nehmen. Es ist Sonntag, der 22. Juni 1941, in den Morgenstunden hat die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion ohne Kriegserklärung angegriffen.
Knapp vier Jahre später, der Krieg in Deutschland ist am 20. Mai gerade erst seit zwölf Tagen vorbei, wird in Berlin – Fußball gespielt. Im Stadion Lichtenberg spielt eine Auswahl von Rotarmisten, im Stadion sind auch befreite Zwangsarbeiter aus den umliegenden Betrieben des Industriegebietes an der heutigen Herzbergstraße. Bis zu zehntausend Menschen schauen zu, der Hunger nach Leben, nach Abwechslung muss grenzenlos sein. Die sowjetischen Befreier lassen die besiegten Deutschen nicht nur leben, sie lassen sie sogar Fußball spielen und zugucken. Wenn sich bei den Befreiten Scham breit macht, muss diese bodenlos sein. In den Zeitungen der Alliierten, die seit April 1945 in deutscher Sprache erscheinen, schreit es den Deutschen ganzseitig entgegen: »Ihr sollt es wissen!« Bilder von Leichenbergen, die Orte Dachau, Buchenwald, Mauthausen und Auschwitz stehen schon, als in Berlin noch gekämpft wird, für millionenfachen Mord; auch die »Euthanasie«-Morde, die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, werden aufgedeckt. In diesen Zeitungen erklären die Alliierten auch, wie der Alltag in den befreiten Gebieten organisiert wird, welche Züge wann fahren – das ist noch kein Wiederaufbau, noch kein Verzeihen, aber das ist die höchstmögliche Form von Gnade, die dem deutschen Volk angesichts der Unterdrückung, Versklavung und Vernichtung, die es über die Welt gebracht hat, widerfährt.
»Heute scheinen die Deutschen wie Betrunkene zu sein, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, was sie getan haben.« So urteilt Carl Gustav Jung, der zusammen mit Sigmund Freud zu den Begründern der modernen Psychoanalyse gehört, in einem Interview für die Schweizer »Weltwoche« Anfang Mai 1945. Und konstatiert, dass »etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung unheilbare Psychopathen sind«. Mit deren Verwahrung oder Umerziehung können sich die Alliierten aber zunächst nicht beschäftigen, viel drängendere Probleme gibt es zu bewältigen. Da sind die befreiten KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und auch die über rund 2,5 Millionen Arbeitssklaven des Dritten Reiches, die sich noch auf deutschen Boden befinden. »Wählt Anführer«, »Bleibt an Ort und Stelle!«, »Meldet euch bei Alliierten!« heißt es in den »10 Geboten für Fremdarbeiter«, die das alliierte Oberkommando am 3. Mai 1945 veröffentlicht. Disziplin unter den Befreiten, Disziplin nach außen – »Lasst Euer Verhalten Eurem Land zur Ehre gereichen. Unordnung und Plündern müssen verhindert werden.«
Allein in Berlin, einem Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie, haben von 1938 an rund 500 000 Zwangsarbeiter unter meist unmenschlichen Bedingungen schuften müssen. Übersehen kann die täglichen Kolonnen auf den Straßen niemand: Mehr als 3000 Zwangsarbeiterlager gibt es allein in und um die Reichhauptstadt. Dazu KZAußenlager, »Arbeitserziehungslager« der Gestapo, Gefängnisse … Großdeutschland einig Lagerland. Zwangsarbeiter werden buchstäblich überall in der Stadt eingesetzt: in der Industrie, aber auch bei der BVG, selbst die Kirchen bedienten sich ihrer. Nikolai Fedorowitsch Galuschkow muss als 15-Jähriger als Totengräber im »Friedhofslager« in BerlinNeukölln arbeiten. 1942 hatten sich 42 Berliner Kirchengemeinden zur »Arbeitsgemeinschaft für die ausländischen Arbeiter auf Berliner Friedhöfen« zusammengeschlossen, um ein eigenes Zwangsarbeiterlager zu betreiben. Für Galuschkow kommt die Rettung mit sowjetischen Panzern: »Im April 1945 wurde ich mit der Gruppe Häftlinge aus dem Keller von der Gestapo herausgeführt und südlich von Berlin zur Erschießung gebracht«, erzählt er 2003 in einem Interview. Als die Erschießung bei Großbeeren beginnt, springt einer hervor, der die Panzer hört. »Danach war Stille, nur die Verwundeten stöhnten.« Eine Frau schreit, »schreit so schrecklich, sie war verletzt, das Blut floss«. Die Gestapomänner hätten alle erschossen, »aber sie hatten keine Zeit«.
Für Millionen Zwangsarbeiter ist die Endphase des Zweiten Weltkrieges ab Oktober 1944 eine Zeit voller Hoffnung – aber auch voller Furcht, erklärt Christine Glauning, die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. Dieses befindet sich heute auf dem Gelände eines ehemaligen Zwangsarbeiterlagers. Überall kommt es zu Endkriegsverbrechen wie Erschießungsaktionen durch die Gestapo, die mit diesen neuen Verbrechen alte Verbrechen vertuschen will. Viele Menschen werden in den »Arbeitserziehungslagern« ermordet, oft direkt am Rand von Bombentrichtern erschossen. Die Gefangenen in Schöneweide, mehrheitlich italienische Militärinternierte, haben Glück: Vermutlich um den 23. April 1945 fliehen die Wachmannschaften vor der heranrückenden Roten Armee und überlassen die Gefangenen sich selbst. Deren erste Sorge ist es, etwas zu essen zu finden. Berlin ist in diesen Tagen ein rechtsfreier Raum – und eine Trümmerwüste.
»Berlin ist heute eine tote Stadt. Als Hauptstadt hat sie einfach aufgehört zu bestehen«, schreibt einer der ersten Korrespondenten, der mit der Roten Armee nach Berlin kam, Anfang Mai 1945. »Das Gesehene spottet jeder Beschreibung. Ich war in Stalingrad, ich habe in London während des Luft-Blitzkriegs gewohnt und ich habe ein Dutzend bedeutender russischer, durch Bombardements schwer beschädigte Städte gesehen, aber ein Bild derart vollständiger Zerstörung, so trostlos und tot, wie man es in Berlin sehen kann, ist unmöglich zu schildern.« Und doch regt sich Leben in den Trümmern. Am 1. Mai, als im Stadtzentrum noch geschossen wird, kommt es in Berlin-Lichtenberg zur ersten Maikundgebung nach dem Krieg. Kommunisten und Sozialdemokraten nehmen vor allen in den alten Arbeiterhochburgen die Selbst- verwaltung in die Hand, zusammen mit der Roten Armee versuchen sie vorrangig, das Überleben zu sichern. Auch das Sportwesen kommt sehr schnell wieder in Gang, dem Spiel am 20. Mai 1945 folgt eine Woche später ein weiteres, Rotarmisten treten gegen eine Lichtenberger Auswahl an. Das heute nicht mehr existierende Stadion Lichtenberg ist dabei als Spielort bewusst gewählt: Von 1914 bis 1920 als erstes städtisches Stadion in Deutschland errichtet, war es 1923 Schauplatz einer Sensation: Am 9. September fand hier der »ArbeiterFußballwettkampf Moskau-Berlin« statt, das erste deutsch-sowjetische Sportreffen überhaupt, 25 000 Zuschauer standen sich auf den Traversen die Beine in den Bauch. In den nächsten Jahren fanden hier weitere sogenannte Russenspiele statt, die jeweils vom linken Flügel der Arbeitersport-Bewegung und häufig gegen den Willen des sozialdemokratischen Bundesvorstandes ausgetragen wurden, wie der Stadionchronist Christian Wolter recherchierte.
Heute erinnert eine Gedenktafel an das erste kommunale Stadion Deutschlands, das zu DDR-Zeiten noch als FDJ-Feldlager diente, danach verfiel und heute überwuchert und teilweise neu bebaut ist. Am 27. Mai 2015 soll eine zweite Tafel hinzukommen, die an das Kriegsende, die an den Zwangsarbeitern verübten Verbrechen und an die Spiele der Rotarmisten direkt nach Kriegsende erinnern soll. Zur Zeremonie, der ein Spiel zweier Lichtenberger Mannschaften im benachbarten BVB-Sta- dion folgt, ist auch der russische Botschafter in Berlin, Wladimir N. Grinin, eingeladen.
Millionen Zwangsarbeiter machten sich nach Kriegsende auf den Weg, nicht immer zurück in ihre Heimat oder das, was nach dem von den Deutschen angezettelten Krieg davon übrig war. Die Sieger ließen die deutschen Besiegten leben und sogar wieder Fußball spielen. Der deutsche General Heinz Guderian, zeitweilig Chef des Generalstabs des deutschen Heeres, meinte noch nach all den Verbrechen des Vernichtungskrieges, dass der Krieg einem Fußballspiel gleiche, nach dem sich die Gegner die Hände reichen würden. Die Erwiderung kam prompt und in angemessener Schärfe aus dem britischen Oberhaus Mitte Mai 1945: »Wir lassen den deutschen General und seinesgleichen wissen, dass dieser Krieg kein Spiel war, das mit einem Händedruck endet. Keiner, der die zerstörten Häuser hierzulande und die Konzentrationslager im Auslande gesehen hat«, könne sich mit jenen an einen Tisch setzten, die bewusst und bösartig einen derartigen Zivilisationsbruch herbeigeführt hätten. Aber anders als die Deutschen ließen die Befreier die Besiegten leben – und sogar spielen.
Am 27. Mai wird am alten Stadion in BerlinLichtenberg eine Gedenktafel enthüllt. Sie soll ans Kriegsende, die Verbrechen an den Zwangsarbeitern und die Spiele der Rotarmisten erinnern.