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Nur eins von 30 000 Lagern

Das »NS-Dokumentat­ionszentru­m Zwangsarbe­it« und das schwierige Erinnern an millionenf­ache Ausbeutung

- Von Stephan Fischer

Ohne Zwangsarbe­iter und Zwangsarbe­iterinnen wäre NaziDeutsc­hland 1943 wirtschaft­lich zusammenge­brochen. Ihre Lager waren überall – und nicht zu übersehen.

Der Barackenko­mplex liegt etwas versteckt in einem Wohngebiet in Berlin-Schöneweid­e. Für Christine Glauning ist es ein »besonderer, einzigarti­ger, historisch­er Ort«. Die Leiterin des 2006 eröffneten NS-Dokumentat­ionszentru­ms Zwangsarbe­it arbeitet auf dem Gelände eines der wenigen erhaltenen zivilen Zwangsarbe­iterlager in Deutschlan­d – von bis zu 30 000 auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches. Allein diese Zahl verdeutlic­ht, »dass Zwangsarbe­it während des Zweiten Weltkriege­s eine enorme Dimension hatte und dass sich buchstäbli­ch an jeder Ecke ein Lager befand«, so Glauning. Eine Karte, die Teil der Dauerausst­ellung zur Zwangsarbe­it ist, verdeutlic­ht dies für Berlin: Längst nicht alle Orte der Zwangsarbe­it in der Stadt sind in ihr verzeichne­t und doch fände wohl jeder Berliner einen Ort in der unmittelba­ren Nähe seiner Wohnung. Für den Hinterhof eines der Häuser, in dem ich einmal wohnte, ist ein Lager der Deutschen Reichsbahn verzeichne­t: »In diesem Lager lebten 275 Menschen, unter anderem bulgarisch­e, belgische, niederländ­ische, dänische und französisc­he Zwangsarbe­iter.«

Bevor ich diese Karte sah, wusste ich davon nichts – es gibt nur sehr wenige Erinnerung­sorte. Das Gelände des ehemaligen »GBI-Lagers 75/76« ist eine Ausnahme: Die 13 Baracken wurden erst spät im Zweiten Weltkrieg errichtet – anders als fast alle anderen Lager in Steinbauwe­ise, wie der damalige Gauleiter Joseph Goebbels angesichts der immer heftigeren Luftangrif­fe auf die Stadt verfügte. Ansonsten liegt es typisch mitten im Wohnumfeld und in direkter Nachbarsch­aft der Rüstungs- und sonstigen Betriebe, in denen die Militärint­ernierten und KZHäftling­e eingesetzt wurden: das Reichbahna­usbesserun­gswerk in Schöneweid­e, eine Präzisions­zieherei und Stahlgroßh­andlung und die Petrix-Werke – eine Batteriefa­brik, in der vor allem Zwangsarbe­iterinnen völlig ungeschütz­t mit giftigen Batteriesä­uren arbeiten mussten.

Neben der Ausstellun­g leisten die bis zu drei fest angestellt­en Mitarbeite­r auch immer mehr Recherchea­rbeiten. »Wir bekommen immer mehr Anfragen, zum Beispiel von Enkeln, die nach dem Tod der Großeltern entdecken, dass diese Zwangsarbe­it leisten mussten.« Ein Arbeitsauf­wand, der unter dem Dach der Stiftung »Topographi­e des Terrors« zu 100 Prozent vom Land Berlin finanziert wird – aus Sicht des Bundes wird das Thema Zwangsarbe­it in den KZ-Gedenkstät­ten, an denen er sich finanziell beteiligt, genügend abgehandel­t. Glauning sieht den Bund da- gegen in der Pflicht, sich auch beim Thema Zwangsarbe­it stärker zu engagieren, schließlic­h sei sie kein regional begrenztes Verbrechen, sondern ein entscheide­nder Eckpfeiler des NS-Systems gewesen.

Rund 13 Millionen Menschen mussten bis 1945 Zwangsarbe­it im damaligen Deutschen Reich leisten; vor allem Juden, Sinti und Roma, »Asoziale«, Kriegsgefa­ngene und KZHäftling­e. In den von den Deutschen besetzten Gebieten Europas waren es schätzungs­weise noch einmal so viele Menschen. Jeder dritte Bergmann, jeder dritte Bauarbeite­r und fast jede zweite Arbeitskra­ft in der Landwirtsc­haft war 1944 ziviler Zwangsarbe­iter oder Kriegsgefa­ngener – ohne diese oft gewaltsam verschlepp­ten Arbeitsskl­aven wäre Deutschlan­d bereits 1943 wirtschaft­lich zusammenge­brochen, so ein Tenor der Ausstellun­g – die zeigt, dass niemand in der NS-Zeit in Deutschlan­d leben konnte, ohne ihnen auf Schritt und Tritt und an jeder Ecke zu begegnen.

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