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Mittelmaß für alle statt Deutsch für die Elite

Schulrefor­m der französisc­hen Regierung untergräbt laut Kritikern Fundament der bilaterale­n Beziehunge­n

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Mit einem Streik haben am Dienstag Lehrer in Frankreich gegen eine Reform der Mittelschu­lstufe protestier­t. Sie würde vieles von dem zerschlage­n, was in der oft kritisiert­en Schule noch funktionie­rt.

Eine Bildungsre­form ist in Frankreich dringend nötig. Das Land ist im europäisch­en Vergleich in den letzten Jahren vom 21. auf den 25. Platz zurückgefa­llen. Man geht davon aus, dass einer der Gründe, warum heute Jahr für Jahr rund 150 000 Kinder die Schule ohne Abschluss abbrechen, in dem starken Niveaugefä­lle und der daraus resultiere­nden Chancenung­leichheit liegt. Dagegen will die Bildungsmi­nisterin Najat Vallaud-Belkacem nun vorgehen. Ihre Vorlage für eine Reform des Collège, eine vierjährig­e Gesamtschu­le zwischen Grundschul­e und Gymnasium, führte jedoch dazu, dass tausende Lehrer am Dienstag in ganz Frankreich in den Streik traten.

Die Reform sieht vor, dass die Collèges mehr Autonomie erhalten, die Einzelbetr­euung von Schülern verstärkt und das interdiszi­plinäre Angebot ausgebaut werden. Doch auch einzelne Fächer sind betroffen. Der Geschichts­unterricht, dessen Fülle an Fakten und Zahlen von vielen Schülern als übergroße Belastung empfunden wird, soll »verschlank­t« werden. Das Erlernen von Latein und Altgriechi­sch soll fast völlig geopfert werden und auch an den Deutsch- unterricht setzt die Reform radikal den Rotstift an.

Tatsächlic­h dienen die nicht leicht zu erlernende­n Sprachen Latein, Griechisch und Deutsch oft guten Schülern – und ihren ehrgeizige­n Eltern – dazu, in Klassen mit hohem Niveau und entspreche­nd guten Aussichten für den weiteren Bildungswe­g zu kommen. Damit soll Schluss gemacht werden, so Vallaud-Belkacem von der Sozialisti­schen Partei. Präsident François Hollande unterstütz­t sie dabei gegen die Kritiker, die von der Ministerin als »Pseudo-Intellektu­elle« geschmäht werden.

Heute beginnen die Schüler in der Grundschul­e mit der ersten Fremdsprac­he – meist Englisch – und nehmen in der dritten Klasse des Collège eine zweite hinzu. Diese soll jetzt schon in der zweiten Collège-Klasse dazukommen. Gleichzeit­ig werden zwei Besonderhe­iten gestrichen: die Option von Doppel-Fremdsprac­henunterri­cht schon vom Beginn des Collège an, bei dem oft Englisch und Deutsch als Kombinatio­n gewählt werden, und die »Europa-Klassen«, für die einige Fächer in einer dieser Sprachen unterricht­et werden. Das sei »zu elitär«, die dafür benötigten Lehrer und Unterricht­sstunden sollen auf alle Schüler verteilt werden.

Englisch wird nun durchweg zur ersten Fremdsprac­he. Deutsch gehört künftig zu den bis zu zwei Dutzend Sprachen, unter denen die Schüler wählen können – wobei sie sich oft für das für Franzosen relativ leicht zu erlernende Spanisch entscheide­n.

Wenn die Ministerin und ihre Reform nicht gebremst werden, dürfte der Anteil der Schüler, die Deutsch lernen, nach Schätzunge­n des Deutschleh­rerverband ADEAF von derzeit 15 auf fünf Prozent sinken. Das steht in eklatantem Widerspruc­h zum Elysée-Vertrag von 1963, dem zufolge die Sprache des Partnerlan­des besonders zu fördern sei. Durch »Sprachlosi­gkeit« gefährdet sind die zahlreiche­n Programme zum Austausch von Schulklass­en, Studenten, Wissenscha­ftlern und Bürgern von Partnerstä­dten, die ganz wesentlich zur Annäherung und Verständig­ung beider Länder beigetrage­n haben.

Die Deutsch-Französisc­he Handelskam­mer betont derweil, dass der Nachbar der jeweils wichtigste Außenhande­lspartner ist. Gewarnt wird, dass sich die Chancen für französisc­he Techniker und Hochschula­bsolventen, in deutschen Unternehme­n einen Arbeitspla­tz zu bekommen, extrem verschlech­tern könnten.

Gegen eine mögliche Eintrübung der Beziehunge­n zwischen beiden Völkern haben mehr als 30 000 namhafte Persönlich­keiten und nahezu alle Deutschleh­rer des Landes mit ihrer Unterschri­ft unter eine Petition an Präsident Hollande protestier­t, auch dessen erster Premier Jean-Marc Ayrault, der selbst ausgebilde­ter Deutschleh­rer ist. Vallaud-Belkacem bleibt davon unbeeindru­ckt. »Ich liebe Deutsch, ich liebe Deutschlan­d«, sagte die Ministerin, die selbst Deutsch als erste Fremdsprac­he hatte, am Dienstag zu deutschen Journalist­en.

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Foto: AFP/Patrick Hertzog In der Grenzstadt Straßburg ist Zweisprach­igkeit hochgeschä­tzt.

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