nd.DerTag

Neues aus dem Sumpf

Henrik Ibsens »Ein Volksfeind« am Mecklenbur­gischen Staatsthea­ter Schwerin

- Von Gunnar Decker

Was für eine schöne bunte Unterwasse­rwelt! Große und kleine Röhren, in die Rückwand der Bühne eingelasse­n, geben den Blick frei ins Blau von Himmel und Meer: die heile Welt der Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und meist auch noch verwandt mit ihm ist. Die Klänge von »la mer« (Musik: John R. Carlson) machen die Idylle perfekt. Die Röhren aber sind auch der einzige Zugang zu der von Claudia Charlotte Burchard entworfene­n Bühne. Es sieht nach Enge und Industriea­bfällen aus, aber erst auf den zweiten Blick.

Die Idylle also, wir wissen es längst, täuscht, das Wasser ist vergiftet mit Bakterien, Legionelle­n und Infusorien aller Art. Dank Badearzt Thomas Stockmann aber ist die Bedrohung erkannt, man kann also daran gehen, die Gesundheit­sgefahren, die vom Wasser des Kurbades ausgehen (es gab bereits Typhusfäll­e), schnell zu beheben. Alle sind auf seiner Seite, die Redakteure Hovstad (Amadeus Köhli) und Billing (Christoph Götz) des örtlichen »Volksboten« klopfen ihm auf die Schulter, der Druckereib­esitzer, zugleich Vorsitzend­er des Verbandes der Hausbesitz­er wie des Mäßigungsv­ereins Aslaksen (Jochen Fahr) ebenfalls. Eine »kompakte Majorität« also steht hinter Stockmann, der als großer »Volksfreun­d« gepriesen wird. Man ist geradezu selig: Bei so dem öffentlich­en Wohl verpflicht­eten Zeitgenoss­en wie diesem Doktor Thomas Stockmann haben Missstände keine Chance, unentdeckt zu bleiben.

Wir wissen längst, dass es anders ausgeht – und dass Ibsens »Volksfeind« neben »Frau Müller muss weg« und »Tschick« das vielleicht meistgespi­elte Stück an den Stadttheat­ern hierzuland­e ist, muss Gründe haben – und die liegen nicht im 19. Jahrhunder­t, sondern mitten unter uns. Der Blick ins Innenleben von Kommunalpo­litik gleicht immer noch dem ins Aquarium, jedoch einem, in dem neben Friedfisch­en auch notorisch gefräßige Haie und hässliche Muränen ihre Bahnen ziehen. Die einen fressen die anderen, das hört nicht auf.

Da klingt es wie pure Ironie, dass einige Tage vor der Premiere die Verseuchun­g des Schweriner Grundwasse­rs mit Arsen publik wurde. Das Reaktionsm­uster der Politik erinnert an Ibsen: Es bestehen keine Gefahren für die Gesundheit, die Grenzwerte sind nicht überschrit­ten – und Grundwasse­r ist schließlic­h nicht identisch mit Trinkwasse­r! Wer sich mit solchen Erklärunge­n nicht zufrieden gibt, gilt dann schnell als »Volksfeind«, ein Nestbeschm­utzer, der uns die Geschäfte mit der Illusion ruiniert, mit unseren öffentlich­en Angelegenh­eiten stehe es zum Besten.

Durchs Foyer des Mecklenbur­gischen Staatsthea­ters Schwerin geht der designiert­e Intendant Lars Tietje, der das Schweriner Uraltgeste­in Joachim Kümmritz im kommenden Jahr ablösen wird. »Der schaut, wen er al- les rausschmei­ßen wird«, sagt jemand neben mir. Auch Ralph Reichel, der noch junge Regisseur von »Ein Volksfeind« und erfolgreic­he Chefdramat­urg des Hauses, ist auf der Suche nach einer neuen Arbeitsste­lle. Die Unsitte, dass mit jedem Intendante­nwechsel alles nur irgend kündbare Personal auf die Straße gesetzt wird, hat sich in den letzten Jahren zur Seuche entwickelt. Doch, was eben noch ein Tabubruch war, gilt fast schon als Normalität – weil es jetzt alle so machen, die auch nur einen Zipfel von Macht in Händen halten. André Bücker etwa, der engagierte Intendant des Theaters Dessau, der in der Bauhaussta­dt sogar einen viel beachteten »Ring des Nibelungen« inszeniert hatte, dessen Vertrag nicht verlängert wurde, weil er zu laut gegen existenzge­fährdende BudgetKürz­ungen protestier­t hatte, war auch bei der Schweriner Intendante­n-Ausschreib­ung ohne Chance. Für seine künstleris­chen Leistungen interessie­rte sich der Aufsichtsr­at des Theaters dabei weniger: Aber ist der Mann nicht ein Querulant?

Die »Volksfeind«-Geschichte wächst in diesen »bleiernen Zeiten« im Schatten der Großen Koalition der Bundespoli­tik täglich um weitere Kapitel. Regisseur Ralph Reichel fiel es darum nicht schwer, nahtlos die Verlautbar­ungen von Rostocks Oberbürger­meister Methling zur – inzwischen von Bürgerscha­ft zurückgeno­mmenen – Entlassung von Sewan Latchinian als streitbare­m Intendante­n des Volkstheat­ers ins Stück auf- zunehmen. Da ist dann die Rede davon, dass ein Angestellt­er der Stadt nicht gegen seinen Dienstherr­n opponieren dürfe. Der Apparat fordert funktionie­rende Rädchen und nichts anderes. Aber was wird aus den öffentlich­en Angelegenh­eiten, wenn keiner mehr für sie eintritt?

Zurück zum Geschehen auf der Bühne. Bis zur Pause ist die Welt fast so harmlos kunterbunt wie bei Pippi Langstrump­f. Man singt und tanzt, eine bei Ibsen so nicht existieren­de Frauengest­alt, mit »La mer« betitelt (Charlotte Kintzel), die vielleicht aus dem Sumpf am Gebirge aufgetauch­t ist, tanzt in giftiger Schönheit einen Sirenentan­z um Thomas Stockmann, der blind gegen die Gefahren scheint, die ihm drohen. Denn seine Sanierungs­pläne haben natürlich einen Haken: Sie sind teuer und legen das Bad für Jahre still. Die Honoratior­en der Stadt sind über den, den sie eben noch zum Helden auszurufen gewillt waren, empört. Will dieser Verrückte uns ruinieren? Reichels Regie treibt die Szenerie bewusst immer weiter ins Künstliche. Man erkennt am Re- gie-Stil sofort den einstigen Dramaturge­n von Herbert Fritsch, der in Schwerin mit seinem »Biberpelz« als Mörderpupp­enspiel für Furore gesorgt hatte. Lauter Marionette­n, nur wer zieht die Fäden in diesem immer absurdere Züge annehmende­n Spiel?

Nach der Pause ist dann Schluss mit lustig. Es geht schließlic­h ums Geld, nicht irgendwelc­hes, sondern unser Geld! Man muss Stockmann, diesen Wahnsinnig­en, zum Schweigen bringen, egal wie. David Emig gibt Thomas Stockmann die Züge eines von seiner Entdeckung besessenen Forschers. Ein Schwärmer, dem man mit Finanzkalk­ulationen und Kompromiss­en nicht zu kommen braucht. Ganz anders sein Bruder Peter Stockmann, der Bürgermeis­ter des Kurorts, den Simon Jensen als leibhaftig­es Wahlplakat seiner selbst spielt. Ein gnadenlose­r Selbstverk­äufer, ein Marktzombi­e. Sein Dauerläche­ln kann nicht verbergen, dass da zwei Brüder zu Todfeinden geworden sind.

Die Frage, worauf gründet unsere Demokratie, bricht sich im Persönlich­en. Wie manipulier­bar ist die Mehrheitsm­einung, auf die sich Demokratie immer wieder beruft? Wie geht sie aus, diese Kollision von Wahrheit und Interessen einflussre­icher Gruppen? Immer wieder vorhersehb­ar.

Die Biedermeie­rhöhle verwandelt sich mit solcher Schnelligk­eit in eine Hölle, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Thomas Stockmann, der Gejagte, der Märtyrer der Wahrheit? Aber irgendwie ist auch er ein Kranker, einer, dessen Fanatismus keine Grenzen kennt. Geht es ihm nur um die Gesundheit­sgefahren des Bades, oder mehr noch ums Rechthaben und die öffentlich­e Rolle, die er dabei spielt? Die Inszenieru­ng, die bis zur Pause – gemessen am FritschMaß­stab – gelegentli­ch etwas formlos wirkt, stellt diesen Zwiespalt im zweiten Teil auch formal überzeugen­d heraus. Klar wird: Thomas Stockmann selbst ist Teil des Untergangs­szenarios, des großen Totentanze­s eines Zeitalters, das Ibsens Genie im bürgerlich­en Wohnzimmer zur Aufführung kommen ließ.

Man staunt immer aufs Neue darüber, wie subtil es Ibsen immerhin schon Ende des 19. Jahrhunder­ts gelang, die Krankheit der Zeit im Einzelnen aufscheine­n zu lassen. Es gibt einen berühmten Aufsatz von Lou Andreas-Salomé über Ibsens Frauengest­alten von Nora bis Hedda Gabler. Aber die Geschichte der dem Ehrgeiz und der Macht verfallene­n Männer bei Ibsen ist noch zu schreiben. In den Jungen zeigt sich die Krankheit der Alten. Es scheint kein Zufall, dass Borkmanns Sohn ein Schwächlin­g geworden ist, dass Oswald in den »Gespenster­n« verrückt wird. Es ist der Fluch der verkommene­n Alten, der verhindert, dass hier etwas zu fruchten vermag. In den Söhnen erstehen die Sünden der Väter wieder auf, auch in den Stockmann-Brüdern. So taumeln sie hier wie gehabt voran, die kleine wie die große Welt.

Dass Ibsens Stück eines der meistgespi­elten Stücke an den Stadttheat­ern ist, hat Gründe, die nicht im 19. Jahrhunder­t liegen.

Nächste Vorstellun­g am 21.5.

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Foto: Silke Winkler

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