»Hysterisch und leicht totalitär«
Vier Monate nach den Attentaten von Paris streitet Frankreich über die Thesen des Historikers Emmanuel Todd
Wer ist Charlie – »Qui est Charlie?« – fragt der Historiker Emmanuel Todd in seinem gleichnamigen Buch, das ganz oben auf französischen Bestsellerlisten steht und einen leidenschaftlichen Streit in den Feuilletons ausgelöst hat. Dabei ist Todds Untersuchungsinteresse auf den ersten Blick recht unverfänglich: Er will wissen, wer die Millionen Menschen waren, die am 11. Januar auf die Straße gingen, nachdem islamistische Attentäter zwischen dem 7. und 9. Januar elf Mitarbeiter der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«, vier Besucher eines jüdisches Supermarktes und zwei Polizisten erschossen hatten.
Dazu nimmt sich Todd Karten jener Départements mit der höchsten Anzahl an Demonstranten und vergleicht, wie sich Bevölkerung und Eliten bei anderen historischen Ereignissen verhalten haben: zum Beispiel während der Französischen Revolution und bei der Gründung der Europäischen Union. Todds Fazit: Die Solidaritätswelle vom 11. Januar habe bei weitem nicht die ganze Bevölkerung erfasst. Vertreter der Ober- und Mittelschicht seien weit überproportional vertreten gewesen. In den Départements mit hohen Demonstrantenzahlen seien die Menschen früher auch gegen die Revolution und für das Vichy-Regime auf die Straße gegangen.
Todd verpasst dieser Gruppe das Label »MAZ«: Mittelklasse, Alte und »Zombie-Katholiken« – gemeint sind jene säkularisierten Christen, zu deren neuem Götzen längst die Europäische Union geworden sei. In den Solidaritätserklärungen mit »Charlie Hebdo« erkennt Todd vor allem ein Ziel: die soziale und wirtschaftliche Diskriminierung der französischen Unterschicht, der ausgegrenzten (und oft muslimischen) Bevölkerung der französischen Vororte. Das Instrument der Unterdrückung, welches in den Solidaritätserklärungen zum Ausdruck komme: »Islamophobie«. Die wahre Botschaft der Demonstrationen, die Todd »hysterisch und leicht totalitär« nennt: »Wir spucken auf die Religion der Schwachen.«
Todds 252 Seiten sind bei weitem nicht die einzige Untersuchung, die sich in den letzten Monaten mit den Attentat auf »Charlie Hebdo« befasste. Rund ein Dutzend Veröffentlichungen gibt es in Frankreich zu dem Thema. Am heftigsten umstritten aber ist »Qui est Charlie?« auf jeden Fall: Als »Linksextremist« und »Islamophiler« wird der Autor in französischen Medien tituliert. Freunde distanzierten sich von ihm, Historikerkollegen verurteilten seine Methodik als unwissenschaftlich. Unter der Überschrift »Was ist mit Emmanuel Todd passiert?« attestiert der Journalist Christian Makarian in »L’Express« Todd zwar »akkurate Karten und Statistiken«, lässt aber ansonsten kein gutes Haar an dem Historiker: »Verstörend« sei es, dass Todd kein Wort über die Opfer der Anschläge verliere. Sein Verhalten gegenüber der muslimischen Unter- schicht zeuge von Paternalismus.
Selbst Premierminister Manuel Valls meldete sich zu Wort. In »Le Monde«, der wichtigsten Tageszeitung des Landes, gibt er Todd in einem Punkt recht: Ja, auch aus sozialen Gründen seien viele Menschen den Demonstrationen am 11. Januar ferngeblieben. Dennoch habe es sich bei den Kundgebungen um einen Appell für »Toleranz und Säkularismus« und gegen einen »verbrecherischen Islam« gehandelt. Todd hingegen sei nichts anderes als ein »Populist«.
Manuel Valls stammt übrigens aus einer säkularisierten katholischen Familie und befürwortet leidenschaftlich die europäische Integration – ein »Zombie-Katholik«, würde Todd sagen.