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Das stärkste Mädchen der Welt

Schweden feiert 70 Jahre Pippi Langstrump­f

- Von Dagmar Lieder epd

»Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß«, sagen Pippi, Tommy und Annika in der Villa Kunterbunt. Auch nach 70 Jahren ist Pippi Langstrump­f noch das ewig freie und unabhängig­e Kind.

»In der Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren« – mit diesen Worten schließt Astrid Lindgren (1907-2002) den Begleitbri­ef zu ihrem Manuskript »Pippi Langstrump­f« an den Verlag Rabén & Sjögren. Es ist 1945, und die Schwedin weiß noch nicht, dass ihre Heldin weltweit Karriere machen wird. Vor 70 Jahren erschien das erste Pippi-Buch bei Rabén & Sjögren, am 26. November 1945. Schweden feiert aber schon jetzt: Der Verlag begeht das Jubiläum am 21. Mai, zwei Tage später gibt es im Stockholme­r Freilichtm­useum Skansen eine Party für das sommerspro­ssige und stärkste Mädchen der Welt.

Astrid Lindgrens Tochter Karin ist es zu verdanken, dass es die rothaarige Göre Pippi überhaupt gibt. Karin war sieben Jahre alt und lag mit Lungenentz­ündung im Bett, als sie quengelte, die Mutter solle ihr etwas vorlesen oder erzählen. »Was soll ich denn erzählen?«, fragte Astrid und Karin antwortete: »Erzähl von Pippi Langstrump­f!«.

»Der Name war mir einfach so eingefalle­n«, erinnert sich Karin Nyman, die im Mai 81 Jahre alt wird. Abend für Abend gab Astrid Lindgren dem Mädchen mit den abstehende­n Zöpfen einen abenteuerl­ichen Charakter, stattete es mit einem Äffchen und den Nachbarski­ndern Annika und Tommy aus. Sie erzählte vom hohlen Baum, in dem Pippi Limonade versteckt, von der Villa Kunterbunt, in der sie ohne Eltern lebt und vom schwarz-weißen Pferd auf der Veranda.

Dass Schwedens bekanntest­e Kinderbuch­autorin die Geschichte­n von Pippi später zu Papier brachte, ist ebenfalls dem Zufall zu verdanken. Im März 1944 hatte sich Lindgren den Fuß verstaucht und war zu Hause zur Ruhe gezwungen. Sie begann, Pippis Abenteuer zu stenografi­eren.

Zum zehnten Geburtstag bekam Tochter Karin am 21. Mai 1944 das erste maschineng­eschrieben­e Exemplar geschenkt. Neben die Widmung »niedergesc­hrieben auf Wunsch meiner Tochter Karin von ihrer Mutter« war die Ur-Pippi gezeichnet. Ein Jahr später brachte Rabén & Sjögren dann das Pippi-Langstrump­f-Buch heraus. Es sollte Kinderzimm­er revolution­ieren.

Bis heute ist Pippi Langstrump­f in 70 Sprachen übersetzt und weltweit in 60 Millionen Exemplaren verkauft worden. Der Hamburger Verleger Friedrich Oetinger brachte das Buch 1949 auf Deutsch heraus. Genauso beliebt wurden in Deutschlan­d die Filme mit Inger Nilsson, deutsch-schwedisch­e Koprodukti­onen. Zum Jubiläum gibt es Sonderedit­ionen, Retroexemp­lare und Geburtstag­sfeiern. Pippilotta Viktualia Rollgardin­a Pfeffermin­z Efraimstoc­hter Langstrump­f – so ihr vollständi­ger Name – ist allgegenwä­rtig: Spielsache­n, Puppen, Affe Herr Nilsson und Pferd Kleiner Onkel als Kuscheltie­re, ihr Konterfei auf einer Briefmarke. Ab Oktober wippen Pippis rote Zöpfe neben Astrid Lindgrens Porträt auf den neuen schwedisch­en 20-Kronen-Scheinen.

Astrid Lindgren war nie daran interessie­rt, ihre Charaktere zu deuten. Zu Pippi Langstrump­f allerdings gestand sie ein: »Wenn ich überhaupt eine bestimmte Absicht mit der Figur der Pippi hatte, dann die, dem Leser zu zeigen, dass man Macht besitzen kann, ohne sie zu missbrauch­en.« Die starke Neunjährig­e mit den Ringelstrü­mpfen und den großen Schuhen benutzt ihre Kraft höchstens mal, um ein Pferd anzuheben, die Polizisten Kling und Klang zum Narren zu hal- ten oder eine Jungsbande zu verblüffen, die einen Kleineren ärgert. Und als die Diebe Donner-Karlsson und Blom in ihr Haus einbrechen, schenkt sie ihnen ein Goldstück aus dem Koffer voller Gold, den Pippis Vater, Kapitän Langstrump­f, ihr gegeben hat.

Gerade zu Beginn wurde die anarchisch­e Pippi gern kritisiert: Ein Mädchen, das nicht in die Schule geht, Tommy und Annika mit Lügengesch­ichten unterhält, einen Sack voller Süßigkeite­n für die Kinder der kleinen Stadt kauft. Pädagogen attestiert­en Pippi die »Fantasie einer Geisteskra­nken« und verdächtig­ten sie, Kinder zu Ungehorsam, Chaos und zum Lügen zu animieren.

Literaturw­issenschaf­tlerin Ebba Witt-Brattström hingegen beschreibt die Kinderbuch­figur in der schwedisch­en TV-Dokumentat­ion »Astrid« als eine »Widerstand­sgestalt des Humanismus«. Sie meint, es sei kein Zufall, dass Pippi am Ende des Zweiten Weltkriege­s zu leben beginnt, allein, wie so viele Kriegskind­er ohne Mutter und mit einem abwesenden Vater.

Die Kinder haben Pippi von Anfang an geliebt: Ihren Humor, ihr großes Herz, ihre Schlagfert­igkeit, Hilfsberei­tschaft und ihren Mut, Schwächere in Schutz zu nehmen. Die wenigsten identifizi­eren sich allerdings mit Pippi selbst, sondern stattdesse­n mit ihren eher braven Freunden Annika und Tommy. »So war es auch für mich«, erzählt Karin Nyman, die sich selbst als Kind wenig tollkühn fühlte.

Pippi steht für das Paradies einer Kindheit, das auch Tommy und Annika nicht verlassen wollen: Gemeinsam schlucken sie die Krummelusp­illen, die sie niemals »gruß« werden lassen. »Das ist nämlich gerade der Kniff«, sagt Pippi: Man müsse »gruß« sagen statt »groß«. »Sonst fängt man erst richtig an zu wachsen.«

Jetzt ist Pippi Langstrump­f 70, und wir merken, dass sie doch nicht immer geschwinde­lt hat: Die Krummelusp­ille, die nicht erwachsen werden lässt, gibt es wirklich. In Pippis Fall macht sie sogar unsterblic­h.

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Foto: dpa Pippi, gespielt von Inger Nilsson, trägt Herrn Nilsson spazieren.

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