Trieb und Kontrolle
Lars Eidinger spricht über Sex, Theater und Film.
In »Dora« haben Sie harten Sex mit einer geistig Behinderten, in der ersten Szene könnte man gar von Vergewaltigung sprechen. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie so etwas spielen?
In erster Linie ist es mir unangenehm. Sowohl die Vorbereitung, als auch das Spielen selbst, aber genau darin besteht ja auch der Reiz. Es wird eine Vergewaltigung gezeigt, wobei die Monstrosität darin besteht, dass das Opfer den Täter im Anschluss wieder aufsucht. Man hat nicht das Gefühl, man soll sich eine möglichst harte Vergewaltigungsszene ansehen, sondern wird zu einem äußerst komplizierten Diskurs angeregt.
Inwiefern?
Der Grundkonflikt des Films besteht darin, dass die Eltern unfähig sind, ihrer Tochter die Sexualität einzugestehen, weil sie geistig zurückgeblieben ist oder auf dem Stand eines Kindes – obwohl sie voll geschlechtsreif ist und auch Lust und sexuelle Fantasien hat. Peter erwischt sie genau an dem Punkt. Er ist kein Missionar, aber sie merkt: »Der nimmt mich körperlich wahr, ich hatte dieses intensive Erlebnis mit ihm, das will ich wieder haben.«
Darf Peter das?
Nein. Ich würde den auch nicht idealisieren. Dieser Punkt ist ihm auch gar nicht bewusst. Das macht er aus der reinen Lust heraus. Wobei ich diesen Aspekt auch interessant finde, denn wir tun immer alle so wahnsinnig zivilisiert und aufgeklärt.
Und eigentlich sind wir es gar nicht?
Ich glaube, dass wir uns in der Hinsicht unglücklich machen, weil wir uns selbst in die Tasche lügen, indem wir unsere Triebe unterdrücken. Zum Beispiel ist auch ein großes Problem unserer Gesellschaft, dass Aggression tabuisiert wird. Ich finde es auch schrecklich, wenn ich Gewalt sehe und es ist kein gutes Gefühl, wenn ich aggressiv werde, oder Aggressionen ausgesetzt bin. Aber manchmal fragt man sich doch: Wohin mit diesen Trieben, die ja offensichtlich da sind? Lars Eidinger wurde 1976 geboren. Nach dem Studium an der ErnstBusch-Schauspielschule arbeitete er zunächst am Deutschen Theater Berlin. Seit 1999 ist er festes Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Seinen filmischen Durchbruch hatte er im Jahr 2009 als Chris in Maren Ades Drama »Alle anderen«. Seit Februar 2015 spielt Eidinger »Richard III.« an der Berliner Schaubühne, in dem Filmdrama
Es ist wohl Teil von Zivilisation, dass diese Triebe nicht ständig frei ausgelebt werden.
Aber wenn man sagt, Zivilisation ist genau die Errungenschaft, dass man sich über diese Triebe hinwegsetzt, führt das noch nicht dazu, dass die Triebe absterben. Sondern ich spüre da immer eine Form von Unterdrückung, die sich nicht gut anfühlt und vielleicht sogar dahingehend äußert, dass alle diffus unglücklich sind und keiner so richtig weiß, warum. So richtig glücklich machen wir uns mit den Verabredungen, die wir in unserer Gesellschaft getroffen haben, nicht.
Ist das der Grund, warum Sie schauspielern, um aus diesem Konstrukt Gesellschaft auszubrechen?
Bestimmt. Vor der Kamera kann ich mich nahezu uneingeschränkt ausdrücken und Grenzen sprengen. Und das ist ja nichts anderes, als gewisse Aggressionen auszuleben. Wo ich mich immer bei Anderen frage: Wie machen die das denn? Die gehen vielleicht boxen, denn irgendwo muss das ja hin. Ich bin durch meinen Beruf privat ausgeglichener geworden.
Auf der Bühne die Rampensau und zu Hause der brave Hausmann?
Ich würde mich weder als Rampensau, noch als braven Hausmann bezeichnen. Das ist ja vielmehr eine Journalisten-Krankheit, alles in Schubladen packen zu müssen. Ich tue auch einen Teufel, bei meinen Figuren zu sagen: »Das ist jetzt so einer. Ich spiele jetzt mal einen Arsch!« Ich bin manchmal ein Arsch und manchmal kein Arsch. Manchmal Rampensau und manchmal braver »DORA oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« spielt er Peter, der eine Affäre mit der geistig behinderten Dora beginnt. Seine Weltpremiere feierte DORA auf der 65. Berlinale. Außerdem lief dort Laura Bispuris »Sworn Virgin« mit Eidinger im Wettbewerb. Der Schauspieler ist mit der Opernsängerin Ulrike Eidinger verheiratet und hat eine Tochter. Mit Lars Eidinger sprach Susanne Gietl. Familienvater – aber auch noch ganz viel Anderes.
Aktuell spielen Sie »Richard III.« an der Berliner Schaubühne. Wie nähert man sich der Rolle eines Massenmörders?
Ich nähere mich keiner Figur, sondern ich versuche die Figur aus mir zu entwickeln. Ich glaube, dass alle Abgründe und alle Widersprüche, die in den Figuren auftauchen, auch in mir stecken. Wir sind alle nicht so abgestumpft, dass wir nicht offen für kriminelles Potenzial wären – und wenn es nur für einen Moment der Gedanke ist: »Den bring ich um!«, weil er mit 100 Sachen durch eine Spielstraße rast.
Was war die böseste Figur, die Sie bisher gespielt haben?
Der Peter in »Dora« war schon ganz schön unangenehm. Es gab beim Casting auch einen Schauspieler, der meinte, dass er eigentlich keine Lust auf den Film habe, weil er sich nicht mit der Rolle identifizieren könne.
Können Sie sich damit identifizieren?
Ja. Gerade, in der Entwicklung, die diese Figur durchmacht. Erst mal ist dieser Peter auf eine sehr eigene Art anarchisch. Er hat eine Haltung, die in sich stimmig ist. Er lügt nicht, er ist da ganz ehrlich und direkt. Also die Eltern damit zu konfrontieren: »Ich ficke eure Tochter. Wo ist das Problem? Fragt doch mal eure Tochter, wie es ihr gefällt.«
Ist Peter ehrlicher?
Er ist in gewisser Weise näher an seinen eigenen Trieben und Abgründen als es der Großteil der Gesellschaft ist und da habe ich mich sehr darauf konzentriert. Und darauf, am Ende zwar keine Läuterung zu zeigen, aber zumindest zu zeigen, dass er dieses Mädchen plötzlich anders anguckt und sich selbst darüber auch anders sieht. Dass es anfängt, in ihm zu arbeiten.
Bei Richard III. sind Kritiker voll des Lobes über Ihre Performance. Denken Sie manchmal: »Jetzt würde ich es gerne mal richtig versauen«?
Es gibt dieses Number-One-Syndrom bei Leuten, die immer darunter gelitten haben, nicht oben zu sein und alles getan haben, um an die Spitze zu kommen: In dem Moment, in dem sie oben sind, ertragen sie es nicht und machen dann irgendetwas total Destruktives, um sich selbst zu stürzen. Das ist bei mir nicht so. Dafür bin ich viel zu selbstzweiflerisch und nahezu paranoid, als dass ich mich wirklich an der vermeintlichen Spitze wähnen würde. Ich empfinde mich nicht als oben. Ich empfinde mich immer noch im Aufstieg begriffen.
Eines ist zu Ihrem Markenzeichen geworden: Sie ziehen sich (fast) immer aus...
Das stimmt doch gar nicht! Ich ärgere mich, wenn das geschrieben wird, weil es auch keine inhaltliche Auseinandersetzung ist. Es gab eine Kritik zu Richard III. mit der Überschrift: »Wetten, dass… Lars Eidinger seinen Penis zeigt?« Das ist erstens total niveaulos und zweitens schlecht recherchiert. Ich habe mich das letzte Mal auf der Bühne im »Sommernachtstraum« ausgezogen. Und das war 2006. Das hat sich bei einigen Journalisten anscheinend so eingebrannt, dass sie mich ständig nackt sehen. Im Theater bin ich jetzt bei Richard das erste Mal seit dem Sommernachtstraum nackt.
Sie haben die Arbeit beim Film mal als Quickie bezeichnet.
Weil es kurz und intensiv ist. Es gibt zwei-Minuten-Takes, die hochgradig intensiv und extrem sind.
Wenn Film für Sie der Quickie ist, was ist dann das Theater?
Eine Sexorgie.