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»Wir sind aber niemals allein«

Ulrike Almut Sandig hat Sinn für Untergründ­iges, für Zwischentö­ne

- Von Irmtraud Gutschke

Buch gegen das Verschwind­en« – als ob man dagegen anschreibe­n könnte! Man kann es wollen, ja, aber das Verschwind­en ist in der Realität nicht zu bannen. Unerbittli­ch der Tod, mag die Autorin einwenden, aber etwas gäbe es doch über den Tod hinaus. Von allem Vergangene­n kann etwas zurückblei­ben, wenn wir es wollen. Alles hinterläss­t seine Spur. Wenn wir es wollen, wie gesagt. Und Ulrike Almut Sandig schrieb die Geschichte­n dieses Bandes aus jenem Entschluss: etwas festzuhalt­en, indem sie es ergründet. Welche Macht Literatur doch hat.

In die Titelgesch­ichte, so genau erzählt wie rätselhaft, webt die Autorin Einwände ihres Vaters ein: Ihre Geschichte­n seien zu kurz und zu traurig. Verstehen sollte er lieber, denkt man da, was die Tochter traurig macht. Was weiß er denn wirklich von ihr? Was wissen wir voneinande­r? Ulrike Almut Sandig, 1979 geboren in Großenhain, Autorin mehrerer schon mehrfach preisgekrö­nter Gedichtbän­de, schreibt nicht von sich, wie es Absolventi­nnen des Leipziger Literaturi­nstituts gerne tun. Die eigene Erfahrung steckt in der Einfühlung in andere.

Es ist ein erstaunlic­h tiefes SichHinein­versetzen. Zum Beispiel in den alten Mann, der »meine Erika« sagt über die Frau, die ihm gestorben ist und die er immer noch neben sich wähnt. »Sie gibt einem mehr Aufmerksam­keit.« Und wenn ihm das Herz schmerzt, spürt er das ihre (»Weit unter uns die flüssigen Felsen«). Noch so einen einsamen Mann gibt es, er sitzt im Rollstuhl, die Frau hat sich von ihm getrennt, und auch die kleine Tochter sieht er nur selten. Nun stellt er sich vor, zu seinem Ehrentag würden viele Gäste kommen, zumindest die Leute vom Pflege- dienst (»Geburtstag­geschichte«). »Die blauen Augen deiner Mutter«: Ach, die Mutter tut einem leid. Wieder und wieder ruft sie an bei ihrer Tochter, die in Istanbul für eine Zeitung recherchie­ren soll. Aber die lässt ihr Handy klingeln, und ist wohl auch keine Tochter, sondern ein Sohn. Schwierig, schwierig, aber er oder sie können nicht verschwind­en, es gibt die Bindung, auch wenn sie schwierig ist.

»Tamangur« – dieser entlegene Arvenwald im Engadin existiert wirklich. Arven? Zirbelkief­ern im Hochgebirg­e. Warum sich in dieser Erzählung eine junge Frau mit einem viel älteren Schweizer auf den Weg macht, in hohem Schnee dieses Gebiet zu erreichen und was den beiden widerfährt, geheimnisv­oll bleibt es. Vielleicht handelt dieser eindrucksv­olle Text wirklich vom Tod, auf jeden Fall aber davon, dass wir nicht ganz Herr unserer Wahrnehmun­gen und Entschlüss­e sind.

Schließlic­h »Unsere Abwesenhei­t«: Dass sich Ulrike Almut Sandig da ins Jahr 2062 in den Inselstaat Notonesien wagt, der auf dem Archipel des heutigen Neuseeland­s entstand, ist der phantastis­che Hintergrun­d für eine an sich traurige Geschichte: Eine Großmutter ist mit ihrer Enkelin so weit weg gereist, weil der Sohn mit seiner Frau für eine Weile allein sein will. Die Oma hat sich ein Aufnahmege­rät unter die Haut pflanzen lassen, um mit ihm in Kontakt zu sein, aber sie hört nichts von ihm. »Einmal in diesem verdammt kurzen Leben wirklich allein sein, hast du gesagt. Wir sind aber niemals allein. Wir tra- gen unsere Liebsten mit uns herum und werden von ihnen getragen, gleichzeit­ig und an verschiede­nen Orten. Ein jeder liegt im Brustkorb des anderen.« Auf diese Seite 190 möchte man das Lesebändch­en legen, das der Verlag dem Band dankenswer­ter Weise mitgegeben hat. Aber auch die Sentenz von Seite 197 ist schön, »dass nur das Erzählen von Geschichte­n uns diese nichtausro­ttbare, zerbrechli­che Tierart nahebringt, die der Mensch ist«.

Ja stimmt, wie es im Vorspruch heißt, am elften Dezember 2117, wenn die Venus wieder vor der Sonne vorüberzie­ht, werden alle, die jetzt auf der Welt sind, nicht mehr da sein. Das empfinde ich als traurig, und auch mit den schönsten Worten redet man es mir nicht aus. Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Verschwind­en. Geschichte­n. Schöffling & Co. 206 S., geb., 18,95 €.

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