Protokoll der Radikalisierung
Im Kino: »Une Jeunesse Allemande« von Jean-Gabriel Périot
Es ist eine eklektische Collage, ein gesellschaftspolitischer Steinbruch, eine unkommentierte Montage aus dokumentarischem Material und Spielfilmschnipseln, aus »Tagesschau«-Einspielern, politisch oft hochbrisanten Filmhochschul-Übungsfilmen, aus Talkshow-Aufzeichnungen und akustischen Gerichtsprotokollen, die der Franzose Jean-Gabriel Périot über die Zeit des »deutschen Herbsts« und seines Vorlaufs aus den Archiven zusammengetragen hat.
»Une jeunesse allemande – Eine deutsche Jugend« beginnt mit der Frage, »ob man in Deutschland heute«, sprich: keine zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Nazidiktatur, denn überhaupt noch Bilder machen könne, illustriert diese Bedenken mit einem bildlichen Rückgriff auf Bücherverbrennung und Massenwahn und mündet anschließend auf der Tonspur in die »Internationale«. Dazu richtet im Bild ein Mann eine Pistole direkt auf den Zuschauer, dies allerdings recht schief, nicht so wie jemand, der damit wirklich etwas vorhat. Und der Film endet mit Rainer Werner Fassbinder, der im westdeutschen Episodenfilm »Deutschland im Herbst« den Suizid der RAFTerroristen im Gefängnis in Stammheim bezweifelt.
Von 1960 bis 1978 reicht die zeitliche Spanne des Materials. Was man da im einzelnen sah, erfährt man allerdings erst aus den Abspanntiteln. Einige der zitierten Filme sind selbsterklärend, etwa Aufnahmen von Bundeskanzler Willy Brandt, der 1966 bei der feierlichen Eröffnung der Berliner Filmhochschule dffb hoffnungsvolle Worte über diese deutsche Jugend und ihre künstlerische Zukunft spricht. Oder das Material ist so bekannt, dass es keiner weiteren Zuordnung bedarf, wie Gerd Conradts filmischer Berliner Staffellauf mit roter Fahne von 1968.
Dass Conradt zu den wegen politischer Renitenz relegierten anderthalb Dutzend Studenten des ersten dffb-Jahrgangs gehörte, ist dabei natürlich kein Zufall: Die enge Verbindung zwischen Filmschülern und politischem Aktivismus gegen das reaktionäre Gesellschaftsbild mancher in den Augen der Jungen schon qua Generationszugehörigkeit politisch diskreditierter westdeutscher Medienmacher und Politiker ist der rote Faden des Films. Mitschnitte polizeilich unterbundener öffentlicher Aktionen stehen deshalb neben Studentenfilmen mit dem hehren Ziel der Weltverbesserung. Hauptdarstellerin eines experimentellen Films: eine Frühstückseier verschlingende, barbusige Gudrun Ensslin. Der halbnackt abgeführte Holger Meins taucht ebenso auf wie Horst Mahler, Andreas Baader und die prügelnden Jubelperser beim Schah-Besuch von 1967 zu sehen sind.
Die eigentliche (Anti-)Heldin des Films aber ist Ulrike Marie Meinhof – linke Journalistin und VorzeigeProvokateurin der ansonsten eher konservativen Fernsehanstalten. Périot zeigt sie erst in Talkshow-Auftritten und dann mit eigenen TV-Reportagen zum Thema Sicherheit am Arbeitsplatz und Produktion versus Arbeiterwohl. Es ist ihr Versuch, mit Worten, nicht, wie später dann, mit Gewalt und Waffen zu überzeugen. Zivilcourage und ein Eintreten für die eigenen Rechte seien in Deutschland auch Jahrzehnte nach dem Ende des Dritten Reichs noch immer nicht gefragt, so Meinhof in einer Talkshow.
Auf filmischer Ebene mündet das Aufbegehren der 68er-Studenten in Demos und Straßenkampf, Ohnesorg-Mord, Teufel-Prozess und Dutschke-Attentat, in Kaufhaus-Attentaten, Landshut-Entführung und Schleyer-Ermordung. Es ist ein Protokoll der Radikalisierung, frei assoziativ über den Lauf der Jahre gelegt: mit Agitatorischem von Peter Zadek, Hartmut Bitomski, Helke Sander und Helma Sanders-Brahms, bebildert mit Filmszenen von Godard und Antonioni, mit Heinrich Böll, der sich von den linken Terroristen distanziert, und mit Politikern von Helmut Schmidt bis Franz-Josef Strauß, die je eigene schneidende Worte über Autoritätsfeindlichkeit im Allgemeinen und terroristische Taten im Besonderen finden.
Das Material ist teils bekannt, teils archivarisch gut recherchiert, manchmal erhellend, oft eher kurz und zitathaft angespielt, manchmal auch über längere Passagen ein bloßes Hörspiel, wenn zu Schwarzfilm Tonaufnahmen aus dem Gerichtssaal zu hören sind. Wer die zeitlichen und politischen Zusammenhänge nicht schon im Blick hatte, wird sie nach diesem Film nicht besser verstehen. Als Diskussionsgrundlage oder Ausgangspunkt eigener Recherche aber taugt der Film hervorragend.
Die (Anti-)Heldin des Films ist Ulrike Marie Meinhof.